Kapitel 71. Ein blonder Fremder

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Sie drehte sich um. Die Finsternis war fort.

Ein Reiter stand nicht weit von ihr auf einem Hügel und verzog seinen schmalen, roten Mund zu einem Grinsen. Ehe sie sich orientieren konnte, lugte ein Lichtstrahl aus dem blassblauen Himmel hinter ihm hervor und entflammte sein Haar zum schönsten Gelb, das Turid je gesehen hatte.

„Beowulf?!", wollte sie rufen. Die Zunge gehorchte ihr nicht. Fast verblühtes Heidekraut erstreckte sich lila und braun zu ihren Füßen und ihr fiel auf, dass sie es nicht spürte. Sie wusste vage, wie sich die Sonne auf ihrem Schopf hätte anfühlen müssen, doch die Wärme blieb aus.

Gern wäre sie in Tränen ausgebrochen. Nicht einmal das brachten ihre Augen zustande.

Mit einem stummen Schauder auf ihrer nicht vorhandenen Haut erhaschte sie wieder einen Blick auf den Mann und stellte fest, dass er mit ihr sprach. Sie hörte nichts.

„Was ist los hier?", wollte sie wissen. „Beowulf! Sag es! Sofort!"

Niemand antwortete ihr. Der Reiter machte kehrt, und Turid sah ihn schon hinter der Hügelkuppe verschwinden, da hob er Pfeil und Bogen, sah ihr ins Gesicht, grinste wieder, zielte. Ihre Welt drehte sich, sie sah kurz die Wolken oben und dann das Moos unten, direkt vor ihrer Nase. Sie starrte auf den Bauch eines Pferdes. Es scheute; als es sich beruhigt hatte und sich schüttelnd davonlief, glänzte die Schnalle des Sattelriemens in der Sonne.

Sie hatte sich vom Pferd gestürzt, um dem Pfeil zu entgehen. Der Mann wollte sie ermorden? Wollte Beowulf sie ermorden?!

Ein Schatten fiel auf das Gras, seine Gestalt thronte über ihr. Turid wollte sich ducken und ihr Gesicht schützen, doch ihre Hände taten etwas ganz anderes – in einer Bewegung, die sie wie aus dem Augenwinkel wahrnahm, ergriffen sie die ausgestreckten Arme des blondgelockten Reiters und ließen sich hochziehen. Er war ihr jetzt so nah, dass sie die Schweißperlen auf seiner Stirn sehen konnte. Er war kleiner als sie. Und er war nicht Beowulf.

Alles an seinen Zügen schien schwungvoll zu sein, die Augenbrauen unverzagt, das Kinn schräg zulaufend, die Ohren groß und katzenhaft. Einzig die Nase traf fast in einer Linie auf die Stirn, was ihm das Antlitz eines eitlen Raubvogels verlieh. Dies war nicht das Gesicht, das ihre Finger erkundet hatten. Auch dachte sie daran, dass Beowulf dichtes, glattes Haar hatte und wie er gesagt hatte, es sei braun.

Du nicht, sagte sie sich und betrachtete den Fremden. Er lachte, sprach seine stummen Worte, lachte wieder. Er lachte wie jemand, der nicht allein lacht.

Ich tue es auch, begriff sie.

Ich... bin nicht ich.

So weit es ihr Sichtfeld erlaubte, versuchte sie in der Verwirrung Grund und Boden zu finden. Die Welt war nicht vollständig. Sie erinnerte Turid an ein zerfetztes Spinnennetz, in dem Einzelheiten wie Tautropfen glänzten, allen voran die Dinge, die die Sonne berührte, das goldene Haar, ein bisschen Metall hier und da, darunter auch die Spitze des Pfeils, der nun halb unter der Böschung im Boden steckte. Sie glaubte, dass abseits des Hügels ein Fluss plätschern könnte, aber sie sah ihn manchmal und dann wieder nicht. Die Fellfarbe der Pferde und was weiter den Hügel hinunter lag, das war in der Leere verborgen. Es war einfach nicht da.

Sie beobachtete, wie der Fremde dem verschreckten Tier über die Nase strich und dann, wie durch Zauberei, innerhalb eines winzigen Moments auf der anderen Seite der Wiese stand und die Augen mit der Hand vor der Sonne schützte. Eine Sekunde später und Turid spähte neben ihm ins Tal. Da war tatsächlich ein Wasserlauf, auf dem Lichtpunkte tanzten. Da war noch mehr Heidekraut und ein Wald, doch die Szene war durchlöchert – abgeblättert wie ein altes Kirchenbild. Da verstand sie, dass es kein Traum war, den sie erlebte.

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt