Kapitel 7. Hadubrand

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„Konrad von der Gremholdshand ist der älteste Vorfahr, den ich kenne", erzählte Turid. „Sein Name ist auf dem Stammbaum bereits so vergilbt, dass ich meinen Vater nach ihm fragen musste. Konrad ist...", sie überlegte, „ich weiß es nicht mehr genau, ich schätze, ein Stammvater zehn Generationen vor meinen Brüdern. Vielleicht mehr, vielleicht weniger. Ich habe damals nicht nachgezählt."

Der Stammbaum war ein großer Teppich gewesen, in Purpur gefärbt und mit Gold bestickt, am Rand geschmückt durch braune Ranken aus Pferde- und Ziegenhaar. Konnte man den Märchen ihres Vaters glauben, hatte Konrad, damals der erste Fürst und sowohl reicher als auch mächtiger als die Gremholdshands zu Turids Zeiten, einen talentierten Knüpfer aus dem Land der Bibel mit nach Hause gebracht. „Seht her, meine Kinder", hatte er gesagt und auf verstaubte gelbe Haare gezeigt, „das ist das Fell der Kamele, auf denen Konrad mit seinem Gefolge heimgeritten ist. Als der erste Schnee fiel, verendeten sie alle, und Konrad bat den Knüpfer, einen Wandteppich aus ihren Pelzen zu weben. Auf dass unsere Familie verewigt werde..."

Verewigt, dachte Turid. Der Eroberer hatte ihn sicher längst verbrannt und einen neuen in Auftrag gegeben – für seine Nachfolger. Die du nicht gebären wirst, sagte sie sich, und es verbesserte ihre Laune erheblich.

„Vor dem heiligen Krieg soll Konrad ein Niemand gewesen sein. Bereits wenige Jahre später kehrte er bis an die Ohren seiner Pferde mit Gold und Silber bepackt in die Heimat zurück. Er war zu so großem Reichtum gelangt, dass er sich ein Fürstentum kaufen konnte."

„Von wem?", verlangte Beowulf mit harscher Stimme.

„Ich weiß es nicht", sagte Turid.

„Man kauft nicht einfach ein Fürstentum", fauchte er zurück.

Turid konnte nichts anderes sagen als ein leises „Tut mir leid." Nachgeben, beschwor sie sich. Bald würde er ohnehin wieder außer Kontrolle geraten, und sie tat besser daran, nicht der Grund dafür zu sein.

Sie überlegte, ob sie es wagen konnte, vorsichtig nachzuhaken. „In welchem Jahr lebte König Adalger?", fragte sie.

Er knurrte. „Was weiß ich", fuhr er sie an, „niemand hat sich damals um die Zeit geschert. Er war da und wir waren bei ihm", und bei seinen letzten Worten wurde sein Ton sanfter, als beschwor eine ferne Erinnerung in ihm eine leise Traurigkeit.

„War er ein Mensch?", fragte Turid.

„Natürlich war er ein Mensch."

„Dann ist er tot", sagte sie. „Konrads Denkmal in der Gruft ist mindestens zwei Jahrhunderte alt. So lang kann kein Mensch leben."

Beowulf erwiderte nichts.

„Es tut mir leid", wiederholte sie. Insgeheim hielt sie es für eine Torheit, dass er so aufgebracht war. Was immer er da für Geschichten von sich gab von Königen in diesem Land, in dem es seit jeher nur Fürsten und Bauern gegeben hatte – er musste doch wissen, dass die Zeit weitergelaufen war, ob er nun die Wahrheit sprach oder nicht. Nichtsdestotrotz war Turid neugierig, wie wohl seine eigene Geschichte vom Schlund aussah, wenn es stimmte. War er zur Strafe hier? Als Folge eines Unfalls? Oder war er bereits vor Adalger in der Höhle gewesen?

Turid seufzte. Ihre Glieder schmerzten mit jeder Stunde mehr, die sie in diesem klammen Loch verbringen musste. Die Dunkelheit war schlimm, aber die Kälte war die wahre Tortur, denn sie drang vom Felsboden zu ihr herauf und sie konnte nichts dagegen tun. Einige Male war sie seit ihrer Ohnmacht nach der kurzen, aber heftigen Gegenwehr bereits erwacht und jeden Morgen fühlten ihre Knochen sich steifer an. Jeden Morgen? Gab es überhaupt so etwas wie Nacht und Tag in dieser Welt?

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt