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Tote träumen nicht.
Turid stand im Meer. Es war kein wildes, schäumendes Sturmmeer wie jenes, von dem ihr der Schiffbauer ihres Vaters erzählt hatte. „Alles an ihm ist grau", hatte er gesagt, seine Stimme ebenso spröde wie seine faltige Haut, „und es ist kälter und wilder als die Untiefen des dichtesten Nebels. Es will dich verschlucken. Du denkst, du wirst verrückt."
Ihr Meer war warm und glatt. Einladend, aber nicht lockend, die Oberfläche von hellem Blau, tausendfach gespiegelt von der aufgehenden Sonne und einem weißen Himmel, der freundlich über ihr schwebte. Überhaupt war alles gleißend hell. Zarte orangegelbe Töne ergossen sich über den Horizont.
Als sie nach unten schaute, sah sie ihre nackten Füße im Sand graben und kleine Pfützen bilden. Der Schlick, der sie in Rillen durchzog, bildete ein wunderschönes Muster. Es wurde von Wellen ergänzt, die nicht weniger zart im Watt schaukelten als winzige Tropfen in einem Becher klaren Wassers.
Ihr letzter Traum lag bereits Jahre zurück, als sie noch ein halbes Kind gewesen war. Nie waren die Eindrücke so deutlich gewesen, nie waren sie ihr so richtig vorgekommen wie in diesem Moment. Früher, ja, da hatte sie wirres Zeug geträumt, hatte schrecklich dumme Ideen gehabt und tat im Traum nie das, was die Logik von ihrem Verstand verlangte. Jetzt war alles ruhig und ordentlich. Ihr Geist wusste, dass sie träumte. Sie konnte die feinen Körnchen zu ihren Füßen sehen, aber die Zehen im Sand spürte sie nicht. Keine Möwen kreischten, kein Wind fuhr ihr durchs Haar, keine salzige Luft lag ihr auf der Zunge. Es gab nur das Licht der Dämmerung am Morgen.
Und dann die Finsternis.
Ihre Augen waren wieder nutzlose Organe, von der Dunkelheit verschlungen. Dafür gab ihr Körper alle anderen Sinne zurück, die im Traum nicht existiert hatten. Turid konnte hören – das Klopfen ihres Herzens und die Arbeit ihrer Lungen. Sie konnte riechen – den letzten Hauch von Fäulnis und Höhlenstein. Schmecken konnte sie das Blut in der Mundhöhle. Und spüren konnte sie den Schmerz.
Ihr alter Begleiter. Scharf in ihrem Bein. Schneidend durch die Finger. Dumpf an ihrem Hinterkopf. Und so viel mehr. Haut, die der Stein des Schlundes von ihren Handflächen, Ellbogen und Hüften gescheuert hatte wie Sandpapier. Prellungen und Stauchungen an jeder Stelle, mit der sie gegen Wand und Boden geschlagen war.
Fernab dieser Qualen war irgendwo auch ein kalter, harter Boden. Es erfüllte sie mit Verwirrung in ihrem benommenen Zustand. Ganz anders als das, was sie erwartet hatte. Sie erinnerte sich an den Traum, den sie gehabt hatte und wie sie gedacht hatte: Tote träumen nicht.
Turid glaubte zwar an Himmel und Hölle und dass es einen Unterschied zwischen beiden gab, mit Engeln auf der einen und teuflischen Fratzen auf der anderen Seite, aber sie meinte, man müsse mit dem ganzen Körper dort sein und nicht nur mit dem Augenlicht. Und –
Man kam nicht zurück.
Sie war wieder hier. Zurück in der Schwärze.
Das Tier hatte sie nicht gefressen.
Sie ließ die Finger ihrer linken Hand zucken. Ballte sie zur Faust. Und dann tastete sie im Dunkeln nach dem Stechen, das neu an ihrer Seite war. Es teilte sich durch vier. Vier Löcher in ihrer Haut.
Eines in der Beuge ihres linken Schlüsselbeins. Eines über dem linken Hüftknochen. Eines in ihrem rechten Schulterblatt. Eines im rechten unteren Rücken.
Auch diese vier Schmerzpunkte ergaben ein Muster – der Abdruck eines Gebisses auf ihrem Körper.
Sie erinnerte sich. Das Maul hatte sie aufgenommen und getragen. Danach wusste sie nichts mehr.
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Turid und die Finsternis
FantasíaDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...