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Er, so hatte er eines Tages festgestellt, konnte sich nicht mehr ohne Schmerzen im Reich der Finsternis bewegen. Die Qual war leise und schwer zu fassen, kam immer wieder wie ein Windstoß vorbei und schien von unten auf seine Seele zu drücken, sofern er denn eine besaß. Schlich er durch die Schatten davon, brodelte sie aus einer ungewissen Ferne vor ihm; kehrte er mit toten Spinnen und Algen in der Faust zum Trümmerfeld zurück, stach sie ihm tückisch in den Rücken. Dass ihm in der Einsamkeit nur das Hallen der eigenen Schritte folgte, machte diesen Schmerz, was am schlimmsten war, auch noch zu seinem liebsten Begleiter. Zu Anfang spiegelte sich noch die Verwunderung in seinen Augen, denn sicher hätte er geglaubt, sein Elend aus ihrer Richtung pulsieren zu spüren – immerhin hatte es doch mit ihr zu tun, alles. Doch das, das war anders. Es erinnerte ihn an die Geschichten vernarbter Krieger mit sonnenverbrannten Gesichtern, die ihre Schwerter einst in der roten Wüste geschwungen und gesehen hatten, wie nachts die Löwen um ihre Zelte strichen. Menschenverlassene Erde und doch der Feind ständig vor den Toren; dies war damals der Grund für ihn gewesen, nicht zu gehen. Stattdessen war er dem eigenen Land aus weiter Ferne beigestanden – mit Adalger an seiner Seite – und hatte zum Schluss keine Löwen, sondern Hadubrand bekommen.
Nein. Nicht Turid, sondern Hadubrand war Verursacher seines Aufruhrs und es überraschte ihn nicht. Das Tier tat wie er, indem es Gänge beseelte, die nie jemand betreten hatte, und labte sich stets an der Freude, für Beowulf nach all der Zeit immer noch unsichtbar zu sein. Bis dieser das Feuer spürte, natürlich, den echten Schmerz. Aber dann war es immer zu spät. So war dieses neue Leiden nur ein Schatten von dem, was Hadubrand ihm wirklich antun konnte und doch der eine Tropfen, der Beowulfs Zorn zum Überkochen brachte.
Irgendwann musst du dich stellen, sagte er sich. Dieser, er hatte innegehalten und sich mit leerem Blick an die Felswand gelehnt, war zwar nicht der erste solcher Gedanken, aber er wusste, dass er es in ein oder zwei Sekunden zum ersten Mal laut verdeutlichen würde, einfach, weil die Zeit dazu gekommen war.
„Du musst dich stellen."
Mit wachsamem Blick lauschte er den eigenen Worten. Sie verhallten in der Dunkelheit, bis die Ferne des Labyrinths sie erstickte. So leicht waren sie misszuverstehen. Ein früheres Ich hätte sicher geglaubt, dass es sich dabei um eine Entscheidung handle – im wesentlichen Sinne: Hadubrand oder Turid. Und als junger Lebemann, der zwar ignorant und zuweilen regelrecht bösartig, im Kern jedoch immer von guter Moral gewesen war, hätte er die Frau gewählt – zugegeben, nicht nur aus edlen Beweggründen. Doch der Beowulf, der jetzt in die Schwärze starrte, wusste nur zu gut, dass ein solch einfacher Zwiespalt wie dieser nicht nur Wunschdenken der Vergangenheit war, sondern schlichtweg nicht in Frage kam. Er war lange kein Mensch mehr. Er durfte nicht wählen. Sich zu stellen hieß viel eher, der Wirklichkeit wie ein Mann gegenüberzutreten und das Wirrwarr zu beenden, dass sich durch Turid gebildet hatte.
Wann war das Unheil herangedämmert? Schon ein Jahr zuvor, als sie die Lichtrinne hinuntergeflogen war? Sicher nicht. Beowulf glaubte nicht an das Schicksal, und Hadubrandsperrte für die Gefallenen schon lange nicht mehr einfach das Maul auf. Hatte alles seinen Lauf genommen, als Turid einfach beschlossen hatte, ihn als Mensch zu sehen, der er nicht war? Sie hatte ganz unbeschwert mit ihm gesprochen, ja fast geplaudert, und das sehr schnell nach all dem, was ihr passiert war. Mit weinerlichen Damen hatte er sich nie gerne umgeben, mit adeligen ohnehin nicht – ein Grundsatz, dessen wahrer Wert erst ans Licht gekommen war, als er selbst im Dunkeln saß – aber es hatte auch schon mehr als genug Männer gegeben, die sich stolz genannt und dann in der Finsternis jede Sekunde bis zu ihrem Tod wie ein Kind geweint hatten. Ohne die Zerstörung des Körpers, ohne den Verlust der Familie, ohne... nun, die anderen Dinge, die Turid erlebt hatte. Sie war zäher als alles, was Beowulf je gekannt hatte. Und er hätte es in Betracht ziehen müssen.
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Turid und die Finsternis
FantasíaDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...