~
Mit einem Geräusch, das große Erschöpfung verriet, ließ sich Turid zurücksinken. Die Haut an ihrem Daumen fühlte sich wund an; bestimmt war sie gerötet. Vorsichtig strich sie mit dem Ringfinger der Rechten – mein neuer Zeigefinger, dachte sie und kräuselte die Lippen – über die Kerbe, welche die Kante der Klinge in ihrem Daumen hinterlassen hatte. Sie war tief. Turid fragte sich, ob Beowulf, der in seinem früheren Leben wohl einige Tiere zerlegt haben musste, auch ein solches Mal hatte: Vielleicht verschwand die Druckstelle irgendwann einfach nicht mehr, wenn man die Klinge zu oft und zu fest in der Haut verkeilte. Wie sehr brannte es in ihr, das zu wissen! Fragen wie diese konnte er nicht ausstehen und die Finsternis hinderte sie daran, es über die diskrete Art herauszufinden.
Plötzlich stutzte sie. Dass sie seine Hände niemals würde sehen können, war ihr bewusst, doch befühlen... ja, gestand sie sich plötzlich, das würde sie wirklich gern tun. Einmal seine Finger in die ihren nehmen – niemals hatte sie ihn berührt, immer nur er sie – und sie untersuchen, damit spielen, die Wärme eines anderen Menschen genießen. Und nebenbei, ganz nebenbei, durfte sie sich dann auch nach der Kerbe erkundigen.
Voller Entsetzen stellte sie fest, dass ihre Wangen zu glühen begannen. Während sie sich schnell über das Gesicht rieb und hoffte, dass Beowulf weiterhin mit dem Ausbreiten der letzten Ladung Fleisch beschäftigt war, schluckte sie ihren Ärger hinunter. Nichts weiter als Wut über sich selbst, weil sie sich bei irgendetwas ertappt zu haben schien, ohne recht zu wissen, wobei eigentlich.
Es spielte keine Rolle. Es würde nicht passieren. Was hatte er je von sich preisgegeben? Turid wusste, dass er aus dem Norden stammte, und zwar dem hohen Norden – nicht nur der seichten Küste, auf die man zuerst traf, wenn man stur dem hellsten Stern am Himmel folgte. Es musste bitterkalt werden und reihenweise Tannenwälder dort geben und so viel Eis, dass es tödlich war; die schier endlose Dunkelheit nicht zu vergessen, von der Beowulf ihr erzählt hatte. Das hatte sich nicht angehört wie eine behagliche Heimat, in der man gern verweilte. Wahrscheinlich war er sein ganzes Leben lang auf Reisen gewesen, immer rast- und ruhelos wie so viele einsame Jäger, die auch Turid manchmal durch den Schnee hatte stapfen sehen. Dann sein seltsames Erlebnis mit seinem König, an dem er fürchterlich zu hängen schien – so wenig, wie er ihn erwähnte. Und irgendwann, irgendwie, hatte die Unterwelt ihn verschlungen und gen Süden getragen, vermutete sie.
Turid vergaß ihre Beschämung sofort, um einmal mehr bei der Vorstellung zu erschaudern, dass das Höhlenlabyrinth endlos sei – bis über die Erdscheibe hinaus, womöglich. Ihre Stimmung wurde düster. Wenn das Schicksal wirklich so niederträchtig war, wie sie es bisher erlebt hatte, bestand ihr heiß ersehnter Ausgang vielleicht nur aus einem Loch, dass in eine weitere Finsternis mündete, eine Finsternis des ewigen Fallens. Wenigstens wirst du dort die Sterne blinken sehen, sagte sie sich.
Von Beowulfs Schritten wurde sie aus den Gedanken gerissen. „Ich habe es eigentlich aufschieben wollen", ertönte seine Stimme über ihr, „aber jetzt lässt du mir keine Wahl."
„Was?" Überrumpelt blickte sie in die Dunkelheit, die schmerzenden Hände neben sich zur Ruhe gebettet.
Er schnaubte belustigt. „Wenn du dich sehen könntest. Als wärst du in einen Kochtopf gesprungen."
„Ach", meinte Turid. Wohl wahr; das Fett schien überall zu sein. Es tropfte in noch größeren Bächen an ihr herunter als früher, wenn sie sich mit Heißhunger auf ihre Mahlzeiten gestürzt hatte, was wohl auch daran lag, dass sie sich das ständig ausgleitende Messer immer wieder am Kleid trockengewischt hatte. „Ich dachte, bis auf die Decke ist alles in der Steinlawine verlorengegangen", sagte sie und keuchte leise auf, denn ihr gesundes Bein ächzte unter dem Versuch, sich aufzurichten. Hoffentlich war ihr Gesicht wieder von der gewohnten Blässe. Wenn nicht, konnte sie beten, dass er es auf die Anstrengung schob.
DU LIEST GERADE
Turid und die Finsternis
FantasíaDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...