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Kaum eine Sekunde später und ihr Schrei war abgewürgt. Der Griff eiserner Finger drückte ihr die Luftröhre zu; hatte sie vorhin geglaubt, unter Wasser ersticken zu müssen, so konnte dies nicht mehr als ein Witz gewesen sein. Jetzt war sie dem Tode wirklich nahe, jetzt war ihre Atemnot nicht selbst auferlegt, nicht selbst behebbar; nun lag auch nur der kleinste Hauch von Luft ihrem eingeschnürten Rachen ferner als jeder Weg in die Oberwelt.
In einem plötzlichen Schub wahrer Kraft, den Turid nie, niemals von einem Gefallenen erwartet hätte, bäumte sich der verrenkte Körper unter ihr auf, vollführte eine schwungvolle Drehung, streckte den Arm durch und schleuderte sie gegen die Wand. Der Fremde war massig, bestimmt drei- oder viermal so schwer wie sie selbst, und sogar in seiner gebückten Haltung überragte er sie, denn sie konnte sein Schnauben weit über ihren Haaren hören. Er prustete regelrecht, als fiele es ihm schwer, Luft in die eigenen Lungen zu bekommen – aber wie sehr auch immer der Aufprall seinen Brustkorb zusammengepresst hatte, es war nichts im Vergleich zu dem, was Turid erleiden musste. Sie wand sich, strampelte, aber der Mann schloss seine Finger nur fester um ihre Kehle und stieß sie weiter gegen die Wand, lehnte sich aber gleichzeitig zurück, als hielte er eine bissige Schlange am Hals von sich gestreckt.
Turid spürte, wie ihre Zehen vom Boden abhoben und die Dunkelheit vor ihr begann zu pulsieren. Stumm öffnete und schloss sie den Mund. Ein, zwei Augenblicke noch und sie würde in Ohnmacht fallen. Ein paar mehr, dann wäre sie tot.
Der Mann riss sie wieder eine Handbreit zu sich her, dann schmetterte er sie erneut gegen die Felsbrocken. Noch einmal, und dann noch einmal, bis sie meinte, ihr Leib sei nur noch eine zermatschte Fliege an der Wand. Anstatt aber ihren Rücken noch ein viertes Mal gegen den Stein zu rammen, holte er aus und schleuderte sie zur Seite; durch den Schwung verloren seine Finger den Halt und Turid schlitterte durch die Dunkelheit. Sie überschlug sich, bis ihr Gleitflug von den steilen Felsen des Schlunds unterbrochen wurde und ihr Körper auf den Boden klatschte.
Schwer atmend stolperte der Hingerichtete zurück und ließ sich stöhnend auf die Knie sinken, während Turid als verrenkte, zerschrammte Form in die Nische kroch und durch kleine Stöße ihres Zwerchfells mehr und mehr Hohlraum in ihre Lungen pumpte, bis ihr Rachen sich durch den Unterdruck wieder öffnete und ein rasselnder Durchzug durch ihre Kehle pfiff. Nichts fühlte sich in diesem Moment so gut an wie diese kühle, feuchte, stinkende Luft.
Eine Weile lag sie nur da, bäuchlings, die Arme links und rechts ausgestreckt, als wolle sie fliegen, und atmete. Nur darauf konzentrierte sie sich – und auf ein leises Gebet, dass er nicht zu ihr kommen würde, um sein Werk zu beenden.
Er kam nicht.
Als ihre Sinne wieder klarer wurden, konnte sie ihn hören. Wie die Zuschauerin eines Schauspiels beobachtete sie, wie er dort in der Höhle herumstolperte, gegen Wände stieß, hinfiel, fluchte und vor Schmerz schrie. Er musste Verletzungen davongetragen haben wie Turid damals auch, Schürfwunden, Prellungen, gebrochene Knochen. Doch kämpfte er dagegen an wie ein Ochse, dem ein Speer in der Seite steckt: Nur noch rasender gemacht durch die Qualen. Vielleicht würde er irgendwann einfach tot umfallen, wenn das Feuer seines Schocks niedergebrannt war.
Wie er doch der Finsternis ausgeliefert ist, dachte sie und schob sich die Faust in den Mund, um ihr eigenes schmerzerfüllte Wimmern zu unterdrücken. Des Augenlichts beraubt, sich völlig blind vorkommend, ohne gelernt zu haben, auf Ohren, Nase und Hände zu vertrauen wie sie selbst, die genau wusste, was er tat und wo er war – er lief ihre Karte ab wie eine leuchtende Landmarke. Erst taumelte er nach rechts, stieß dort gegen die Höhlenwand und wandte sich hastig ab. Sein Schnaufen verriet ihr, dass er sich auf den See zubewegte, und im nächsten Moment hörte sie auch schon ein Platschen und einen Aufschrei. Er zuckte regelrecht zurück vom eiskalten Wasser, als hätte er sich daran verbrannt. Doch auch sein nächstes Ziel brachte ihm kein Glück: Er lief mit erstickten Lauten den Rand des Abgrunds entlang, schleifte mit gekrümmtem Oberkörper die Hände über den Boden, um sich den Weg zu ertasten und sich zu stützen. Den schmalen Grat, der vom Schlund zur weitläufigen Höhle führte, bemerkte er nicht, dafür war er zu hastig. Überhaupt, wie hätte er wissen können, dass der Abgrund in Wahrheit nur ein Graben war?
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Turid und die Finsternis
FantasíaDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...