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Turid war bereits durch den Spalt gekrochen, Beowulf ihr auf den Fersen, als ein schwindelerregender Schmerz ihre Eingeweide pulsieren ließ. Im nächsten Moment schoss ihre Hand nach oben und krallte sich in die Haut, um einen Punkt unterhalb ihrer Brüste, dort, wo sie den Magen vermutete. Es fühlte sich an, als hätte sie ein Loch im Bauch.
Die brutale Geste zwang sie zum Stillstand. Beowulf sah nicht, wie sie sich vornüberbeugte und die Klaue aus eisern verspannten Muskeln und Sehnen mit der anderen Hand auseinanderzwang, bevor unter ihren Nägeln das Blut floss.
Mit weit aufgerissenen Augen betrachtete sie das bunte Schwarz vor ihrer Nase und legte dann das Kinn auf die Brust, so wie Menschen, die vom Tageslicht gesegnet sind, an sich hinunterstarren. Hätte sie sehen können, ihr Blick wäre genau auf die Stelle getroffen, an der der Schmerz bereits abebbte – so schnell, wie er gekommen war. Verstohlen knetete sich die Finger. So muss es sich anfühlen, wenn ein Pfeil dich durchbohrt oder Gift dir die Gedärme verätzt, dachte sie. Kein Wunder, dass es der erste Instinkt ihres Körpers gewesen war, sich diesen Schmerz aus der Brust zu reißen.
Ein anderer Mensch wäre in Panik geraten, aus Angst, dass mit ihm etwas nicht stimmte; Turid blieb ruhig. Er war ein alter Bekannter, dieser Schmerz.
Die Erinnerungen an das letzte Mal, als er sie heimgesucht hatte, waren bereits eingetroffen und geisterten ihr vor den Augen herum wie lebendige Bilder: Es war der Augenblick gewesen, als man ihr im Kerker einen Schwall Wasser ins Gesicht geschüttet und sie, ein todmüdes, verstörtes Wesen, auf die Füße gezerrt hatte. Indem man ihr die Fesseln an den Handgelenken löste und sie mit hinter dem Rücken verschränkten Armen wieder zusammenband, krümmten sich alle Wirbel nach oben und Turid sah einem Krieger ins Gesicht. Ihr troff das Wasser an den Haaren hinunter, ihm noch das Blut vom Helm, und da hatte sie endgültig begriffen, was ihr zuvor wie ein Traum vorgekommen war: Ihre Familie war tot, der Krieg war verloren.
Oh, und dieses Leid... schon damals war ihr erster Gedanke gewesen, eine Waffe hätte ihr hinterrücks den Garaus gemacht. In den Stunden danach wünschte sie sich manchmal, es wäre so gewesen, denn lange, bevor man sie schlug und steinigte, wollte sie nur noch weinen. Nie hätte sie geglaubt, dass seelischer Schmerz so groß, so körperlich werden könne.
Turid blinzelte zwei, drei und dann viermal, denn die Bilder drohten ihr das Schwarz noch schwärzer zu machen. Ihr schwindelte.
Als man sie dem Eroberer kurz nach dem Kerker zum ersten Mal vor die Füße geworfen hatte, reichte seine Stimme, um die Angst zum Alleinherrscher ihrer Gefühle zu machen. Da hatte sie die Qualen hinuntergewürgt. Und als sie in der Finsternis aufschlug, war der Schmerz bereits fort, wurde von anderen Leiden verdrängt, weil er zur Oberwelt gehörte und die war fort. Bis zum heutigen Tag hatte sie nicht mehr daran gedacht, aber nun – nun verstand sie es.
Beowulf zwängte sich hinter ihr durch die Spalte. Turid, die wieder auf festen Beinen stand und eins und eins zusammengezählt hatte, lauschte ihm mit ruhiger Miene.
Dieser Schmerz in ihrem Bauch war der Seelenschmerz, die Qual über den Verlust der Liebe. Und jetzt fühlte sie ihn. Den Tod ihrer Familie hatte sie lange verdrängt, aber jetzt, da war sein Tod so nahe gewesen, dass sie gegen ihren Willen darüber zerbrechen wollte. Sie fragte sich, ob das hieß, dass sie ihn liebte.
Auf ihrer Stirn bildete sich eine Sorgenfalte, die – das ahnte Turid – zudem auch Unglaube und ein wenig Neugierde verkörpern musste, so, wie ihr ganzes Gesicht mit dem leicht geöffneten Mund und den wachsamen blinden Augen sich ihm preisgab. Schnell wandte sie es ab.
Zu spät.
„Turid", sagte er sanft über ihre Schulter hinweg. „Turid, sprich mit mir."
Sacht schüttelte sie den Kopf. Sie hatte nie einen Menschen geliebt, mit dem sie keine Verwandtschaft teilte. Nie selbst ausgesucht, wen sie liebte. Sie war die Tochter eines Fürsten, das stand ihr nicht zu.
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Turid und die Finsternis
FantasyDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...