Kapitel 91. Fundstücke

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Die Stille hatte sie noch nicht lange getrennt, da blieb Beowulf stehen und schlug mit der Faust gegen die Höhlenwand. Turids Blick hatte er deutlich vor Augen: Enttäusch mich nur wieder, hieß er.

Das Blut rauschte ihm in den Ohren und seine Schulter schrie vor Pein. Ein solcher Wutausbruch sah ihm nicht ähnlich. Früher, ja, da war er ein Hitzkopf gewesen, aber seit Turid da war, schälten sich die Jahrhunderte von ihm ab und offenbarten den friedvollen Kern, den Adalger in ihm gesehen hatte. Nenn mich nicht zahm, nur weil ich keine Christen verbrenne!, hatte Beowulf ihn angebrüllt. Jetzt wusste er, dass sein König Recht gehabt hatte und das tat ihm leid.

Es ist nicht wie in der Oberwelt, versuchte er sich einzureden, wo Turid auf ihn hätte warten müssen, während er auszog und die Welt in Ordnung brachte. Doch obwohl er davon überzeugt war, ihr nur in den Sinnen überlegen zu sein – die nichts anderes als eine Leihgabe waren – und obwohl er ein Kind des Waldes war – wo man nicht nach fremden Regeln lebte – konnte er nichts anderes sehen als ihr verbittertes Gesicht, eines, das ihn schuldig machte, versagt zu haben. Nicht nur als Weggefährte, sondern als der Mann, dem sie sich anvertraut hatte, als ihre zweite Hälfte.

Du musst ihr endlich alles erzählen, drängte eine Stimme in seinem Inneren. Sag ihr, warum du die Höhle nie verlassen hast. Sag ihr, wie es enden wird.

Beowulf schüttelte den Kopf. Gebückt – als ob die Last seines Geheimnisses ihn zu Boden drückte – wandte er sich ab und schleppte sich weiter, auch wenn er nichts zu finden erwartete, nicht einmal mehr dieses Etwas. Denn dass Turid ihm nicht glaubte, reichte, um sich selbst nicht mehr zu glauben. Die Griffe, die Tritte, diese Kraft – wie schlimm konnte es um ihn stehen, dass er sich so etwas einbildete?

Andererseits: Was sollte denn noch außer ihnen dreien in der Höhle leben, ohne dass er es je bemerkt hatte?

„Ich weiß nicht mehr weiter", gestand er der Finsternis.

Sie blieb still, aber irgendwie antwortete sie doch.

Hadubrand würde Turid kriegen. So einfach war das.

Wie gerufen wehte ihm ein Hauch des Tieres ins Gesicht. Ohne jede Eile – die Spur war uralt – rümpfte er die Nase und legte den Kopf in den Nacken. Der Tunnel verbreiterte sich, sein Feind würde bald hineinpassen. Doch um ihm zu entgehen, hatte Turid zu wenig Vorsprung und das war Beowulfs Schuld. Dabei konnte er nicht einmal sagen, wie schlimm es um sie stand; Hadubrand hatte die Verbindung zwischen ihnen gekappt wie ein sprödes Seil. Beowulf würde ihn erst merken, wenn es zu spät war.

Er legte sich die Hände an die Schläfen. Gerade jetzt schienen seine vergifteten Adern ihn zu verhöhnen: Das Leben floss hörbar in ihnen dahin. So würde es immer sein, während Turid...

Er wagte es nicht, das zu Ende zu denken.

Das Geräusch ging ihm nicht aus dem Sinn. „Aufhören", zischte er. Sein Herz reagierte nicht: Bum, bum, bum... schlug es. Mit roher Gewalt hielt er die Luft an, spannte all seine Muskeln und fror sich ein, obwohl es nur für eine Minute halten würde oder kürzer. Er spürte seine Glieder gefühllos und seinen Geist leer werden, stumpfsinnig und dennoch vertraut, wie es nun mal war, wenn Beowulf sich seiner Menschlichkeit verweigerte, aber... das Rauschen hielt an.

Er ließ so ruckartig los, dass die gesammelte Energie ihn auf einmal überrollte und ihm schwarz vor Augen wurde. Kurz fürchtete er, das Geräusch zu verlieren, doch sein feines Gehör ließ ihn, Hadubrand sei Dank, nicht im Stich.

Kein Zweifel. Es war da.

Er stolperte durch den Gang, nicht wissend, was er eigentlich suchte. Das Rauschen entfernte sich nicht, kam aber auch nicht näher. Es unterlegte die Höhle zart und monoton mit seiner Musik.

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt