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Viel zu früh hörte Turid Schritte durch den Tunnel hallen. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus, aber dann besann sie sich eines Besseren. Das Tip-tap war rhythmisch, es klang gesund. Es war nicht das gruselige Schwanken, das sie auf dem Weg zum Herzen der Finsternis verfolgt hatte.
Dennoch drückte sie sich tiefer in ihre Spalte, als das Geräusch näherkam. Sie hatte eine verschwitzte Hand stets an der Höhlenwand entlanggleiten lassen, damit Beowulfs Nase ihm den Weg weisen konnte, bis sie auf einen Riss im Stein gestoßen war, in dem sie sich verkriechen konnte. Er war ein Geschenk des Himmels – sie ruhte halb in der Decke, so leicht hatte sie ihn entlangklettern können.
Tip, tap, tip, ruf nach ihm, verlangte etwas in ihr. Aber Turid blieb stumm, ja sie unterdrückte sogar das Keuchen, das noch immer aus ihrer Lunge drängte. Zu viele finstere Überraschungen hatte sie erlebt.
Der Körper kam näher. Er brachte einen vertrauten Geruch mit, der sie schließlich aufatmen ließ. Sie öffnete den Mund und rief: „Beo-"
Die Gestalt rannte unter ihr vorbei.
„Halt!"
Er bremste scharf. „Turid?"
„Hier oben. Wie eine Fledermaus", bemerkte sie trocken und streckte ein Bein aus der Öffnung, um sich herunterzuhangeln.
Beowulf sog leise die Luft ein. „Du lässt nach", sagte sie. Er sagte nichts, als sie am Boden landete, sodass sie sich stirnrunzelnd umdrehte. Da merkte sie, dass er völlig außer Atem war, oder vielmehr, völlig außer sich, so wie er da in der Dunkelheit stand und... „sag, mal, zitterst du?"
Ganz nach seiner Art blieb er stumm. Kurzerhand trat sie vor und berührte ihn am Arm. „Was stimmt mit dir nicht? Hast du starke Schmerzen?" Der Blutgeruch war schwach. „Oder sind es die Toten? Beowulf. Es musste sein, ja, wir haben ihnen sogar einen Gefallen getan."
„Ich habe gar nichts getan", krächzte er und klang dabei wie eine sterbenskranke Version seiner selbst.
„Wie?"
„Ich habe es nicht getan."
„Du hast – sag mal, bist du eigentlich –" Sie krallte die Finger in sein Hemd. Ihr nächster Gedanke machte ihre Knie butterweich. „Und Hadubrand?!"
„Schätze, der ist jetzt hinter uns her", murmelte er.
„WAS? Du wolltest ihn damit fertigmachen! Es wird Tage dauern, bis er sich davon erholt hat, hast du gesagt!"
„Und das ist die Wahrheit." Allmählich schien Beowulf aufzutauen, wie jemand, der aus wirren Träumen erwacht. „Aber..."
Sie ließ ihn los, als hätte sie sich verbrannt. „Hast du mich verraten?", fragte sie leise.
Ihre Worte wirkten wie eine Ohrfeige. „Ob ich – nein! Nein, niemals." Er griff nach ihr, aber sie trat zurück, spürte einen Windhauch, als er das Gleichgewicht verlor und auf die Knie stürzte. Ihr Herz setzte aus. Der starke Beowulf war gefallen. „Ich wollte doch. Und dann – und dann..." Sein Satz zerrann ihm in den Händen wie Sand. „Dann hat mich etwas gejagt."
Kein Wort tauschten sie aus. Da waren nur Finsternis und die Geräusche ihrer Flucht, schweres Atmen und blinde Schritte, denn Turid wusste nicht wohin und er diesmal auch nicht. Ein simples „Komm" aus ihren bebenden Lippen hatte gereicht, um das zu fortzusetzen, was sein sehnlichster Wunsch gewesen war: Rennen. Das hatte sie jetzt verstanden.
Jede zweite Höhle war früher klein genug gewesen, um sich vor Hadubrand zu verstecken, doch jetzt öffnete sich das Labyrinth unaufhörlich, als wollte es mit einer schwungvollen Geste zum Ball einladen. Oh Gott, dachte sie. Nicht nur Hadubrand. Die ganze Zeit war es nicht nur Hadubrand gewesen. Aber was? Ein... ein kleiner Hadubrand?
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Turid und die Finsternis
FantasíaDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...