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Sie spürte Blicke in ihrem Nacken.
Turid stand in der Dunkelheit und wagte nicht, sich zu rühren. Etwas, das Kälte war oder Furcht oder beides, schlüpfte ihr in die Schuhe und versteinerte ihre Zehen. Eisnebel benetzte ihr Gesicht. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und merkte, dass der Nebel nach Mensch schmeckte. Nicht so, dass sie glaubte, Beowulf sei hier, sondern intensiv und säuerlich.
Leichen, oder?, dachte sie. Ja, hauchte der Wind.
Langsam ging sie nach vorn, bis ihre Hände die Wand berührten. Sie zitterten, so wie alles an ihr. „Hier bist du also zuhause", flüsterte sie und schluckte, als die Kälte durch ihre Haut drang. In einem großen Bogen fuhr sie am Felsen entlang. Jemand hatte eine mannshohe Kerbe in den Stein geschlagen – ihr Herz raste, als sie den Arm hinübergleiten ließ – dort war... nichts. Die Erleichterung entfachte ein warmes Glühen in ihrer Brust.
Der Felsen stieß hervor und flachte wieder ab. Noch eine Kerbe. Auch diese – leer.
In der dritten lehnte ein Mensch.
Turid schrie auf und stolperte zurück. Ihr war, als gackerten hinter hier die Hexen, die sie gesehen hatte: Hasserfüllt, wie sie waren, ergötzten sich die Geister an ihrem Grauen. Ha! Hi! Ha!
Turid ballte grimmig die Hand zur Faust, die vom Oberarm des Toten feucht klebte. Er tut dir nichts, sagte sie sich.
Ein beherzter Griff und sie stellte fest, dass die Gestalt in ihrer Kerbe blieb, so fest sie auch an der reglosen Schulter rüttelte. Die Haut war ledrig, doch das Fleisch darunter fest – es konnte nicht sehr lange her sein, dass dieser Mensch ihre Welt verlassen hatte. Turid verengte die Augen zu Schlitzen. Nach kurzem Zögern legte sie dem Toten die Hand auf den Scheitel. Dichtes, strohiges Haar wie das einer Vogelscheuche knisterte unter ihren Fingern. Plötzlich störte es sie nicht mehr, dass der Mann ihr mit seinen verfaulten Pupillen direkt ins Gesicht starrte.
Warum war er so... frisch?
Ein Schauder lief ihr über den Rücken beim Gedanken, dass Hadubrand die ganze Zeit über einen weiteren Menschen gefangen gehalten hatte. Und vielleicht war der nicht der einzige. Vielleicht fühlte sich die Höhle deshalb so lebendig an, weil ferne Stimmen versuchten, mit ihr Kontakt aufzunehmen.
Sie spürte dabei einen Stich im Herzen. Willst du etwa mit Beowulf allein sein?, fragte sie sich. Oh ja. Ja, das wollte sie – und erinnerte sich dabei an das letzte Mal, als sie sich zwischen ihm und einem Hingerichteten entschieden hatte, falsch entschieden hatte.
Wo bist du?, fragte sie den Wind und das Kribbeln kroch in ihren Nacken zurück. Hadubrand konnte jederzeit, in dieser Sekunde, hier sein.
„Beowulf!"
Das Wort verhallte kläglich.
Voller Zorn stürzte sie zur nächsten Kerbe und fand, was sie erwartet hatte: kaltes Fleisch. Auch dieser Mensch war noch nicht lange tot, und er war unbekleidet, zumindest, was den Oberkörper anging. Turid verspürte kein Bedürfnis, sich vom Rest zu überzeugen.
Den dritten Toten streifte sie nur. So den vierten und den fünften. Alle frisch. Wie viele denn noch?
Allzu bald fand sie heraus, dass sie unzählbar waren. Kerbe um Kerbe passierte sie, manche leer, manche auf ihre eigene schreckliche Art und Weise bewohnt, bis die Wand einen eleganten Bogen schlug und ihre Schritte mit dem Säuseln der Luft eins wurden. Mit jedem Keuchen quälte sie ihre Lungen mit der eiskalten Luft, doch das Blut in ihren Wangen pulsierte heiß.
Irgendwann blieb sie stehen, hob das Kinn und fasste einem Leichnam direkt ins Gesicht.
Es war, wie Beowulf zu berühren. Die Haut war nicht kühl, sondern eiskalt, aber sonst – das gleiche Gefühl von totem Leben, oder lebendigem Tod; der Eindruck von fließender Kraft in seinen Adern und doch mechanischen Antriebs, wie von einer hölzernen Maschine, die ein brillanter Baumeister mit Fleisch und Sehnen verkleidet hatte. Turid presste die Lippen fest zusammen und fuhr mit dem Finger seine Nase entlang. Es war kaum zu glauben, dass nicht eben noch Atemluft hindurchgeströmt war. Sie kam zum Augenlid. Sie drückte und ihre Berührung endete im Nichts. Die Höhle war leer.
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Turid und die Finsternis
FantasyDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...