~
Ein hoher, gellender Schrei riss sie aus der Bewusstlosigkeit. Er ging ihr bis ins Mark. Dieser Schrei enthielt nichts als Schmerz, brutaler Schmerz, denn ihre Knochen waren nur noch glühende Eisenstäbe, die ihr das Fleisch von innen verbrannten, sich durch ihre Glieder fraßen und von der Welt nur unvergleichliche Qualen zurückließen.
Im ersten Moment hatte Turid geglaubt, heil unten angekommen zu sein. Die Panik hatte für ihren schmerzlosen Fall gesorgt, Blut durch jede Ader gepumpt. Als der Felsboden diesen Zustand abrupt beendete, wusste sie bereits, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber sie hatte es nicht gefühlt. Und jetzt wurde sie von ihren eigenen Schreien geweckt.
Ihre Glieder waren irgendwo. Ihre Beine unter ihr. Die Arme wild von sich gestreckt. Hatte sie noch Arme? Ihr Körper brannte mit jeder Faser, sie hätte nicht sagen können, ob die Felswand sie abgerissen hatte oder nicht.
Turid wollte ihre Finger bewegen, aber die Signale gingen irgendwo zwischen ihrem Willen und ihrer Schulter verloren. Sie schrie weiterhin.
Am schlimmsten aber war die Dunkelheit.
Sie war durchdringend. Sie war allumfassend. Ihre Welt war so schwarz, dass Turid nicht sagen konnte, ob sie ihre Lider geöffnet oder fest verschlossen hatte, es schien, als befand sich vor all ihren Sinnen eine Wand aus perfekter Schwärze, endgültig wie der Tod.
Ihr Kreischen hallte von irgendwo her zurück. Hören konnte sie noch. Bis ihr auf einmal die Luft ausging.
Sie wollte wieder einatmen. Aber sie konnte nicht.
Atme, sagte sie sich. Es ist nie schwer gewesen. Warum kannst du es jetzt nicht?
Man musste die Bauchmuskeln heben. Die Lunge öffnen.
TU es!
Ein klein wenig Luft fand den Weg in ihren Körper. Beim Ausatmen schrie sie wieder. Die Schmerzen waren einfach unerträglich.
So ging es eine Weile. Turids verrenkte Gestalt sog zitternd die Luft ein, beim Ausatmen schrie sie sich die Seele aus dem Leib.
Nach einiger Zeit gelang es ihr, mit der linken Fingerspitze zu zucken. Eine Träne lief ihr die Wange hinunter. Als sie auch die rechte Hand bewegen wollte, zog ein scharfer Peitschenschlag ihren ganzen Arm entlang. Nicht in Ordnung, dachte sie. Aber alle Finger waren noch da.
Wenn sie nur nach oben sehen könnte! Dann würde sie vielleicht ein kleines Licht sehen, von der Seite des Schlundes, von der sie gekommen war. Dann verwarf sie den Gedanken wieder. Das Loch war längst verschlossen. Keine Bretter, sondern ein wuchtiger Felsen, der die Unterwelt von ihrer Heimat trennte.
Die Unterwelt, in der sie sich jetzt befand.
Turid fragte sich, ob der Eroberer ihre Schreie hören konnte.
Natürlich.
Sie verstummte auf der Stelle.
So kam es, dass sie sich so verloren fühlte, wie kein Mensch im ganzen Land es ertragen hätte. Sie war blind. Zerschmettert. Hilflos. Alles, was sie wahrnahm, war der unendliche Schmerz, der allmählich schärfer und deutlicher wurde. Ihre eigenen Atemgeräusche. Und die gähnende Stille.
Sie lauschte dem Blut, das in ihren Ohren rauschte. Ihr Herz klopfte leise.
Als ihr auffiel, dass ihr Hinterkopf dumpf pochte, sah sie mit einem Mal die bunten Muster, die sich in ihrem Sichtfeld auftaten und im Takt mitblinkten. Natürlich wusste Turid es besser – sie konnte nicht wirklich etwas sehen.
![](https://img.wattpad.com/cover/297031428-288-k291439.jpg)
DU LIEST GERADE
Turid und die Finsternis
FantasíaDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...