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Es war früh am Morgen, und die Höhle schlummerte in Stille.
Nicht, dass es im Reich der Dunkelheit etwas gab, das sich mit Tageszeiten vergleichen ließe. In der Oberwelt war den Menschen gar nicht bewusst, wie sehr sich das empfindliche Gefüge ihres Lebens durch die den Stunden schlängelte, sich hob und senkte wie eine Düne im Atem des Meeres. Nicht nur das Licht kündigte seinen Anbruch an, wenn es warm und sanft über die Hügel strich; auch die Luft wurde wärmer, schwerer; auch die Wolken und das Wasser und der Wind glitten stumm in die nächste Form, spielten mit neuen Farben und schmiegten sich an das Gesicht des Landes unter ihnen. Jedes Mal neu, jedes Mal anders. Jeder Tag ein kleines Wunder für sich.
Das war eines der wenigen Dinge, die Beowulf bis heute in Erinnerung behalten hatte. Jetzt dachte er einmal wieder daran, während er sich die Tunnel hinunterwagte und den Frühlingsfrost am Saum des hohlen Berges hinter sich ließ. In der Höhle gab es kein Flügelflattern, kein Hufgetrappel und kein Stimmenraunen, wenn die Welt in der Dämmerung zum Leben erwachte. Ebenso wenig, wie abends die große Erschöpfung, manchmal voller Zufriedenheit, manchmal in Elend, sich über die Gemüter von Mensch und Tier legte, bis der Mond aufging. Hier unten waren die Jahre nur lichtlos und lautlos. Und lustlos, hätte Turid wahrscheinlich befunden.
Beowulf, der über die Jahre stumpf geworden war und sich nicht mehr sonderlich an der schwarzen Ödnis störte, erfuhr den Abschied der Nacht als beiläufiges Bekenntnis seiner Umgebung, dass es früher einmal eine andere Welt für ihn gegeben hatte. Denn auch wenn die schlagenden Herzen von oben am Fuße der Lichtrinne fehlten und – anders als er vor langer, langer Zeit gehofft hatte – ebendiese Lichtrinne ihren Schimmer zu hüten schien wie einen Schatz und ihn nicht gerne preisgab, hatte er doch andere Wege gefunden, sein schwarzes Zuhause zu studieren. Hauptsächlich waren es feine Schwankungen aus Wärme und Kälte, schneller und langsamer fließende Luft und kaum merkliche Vibrationen, die seinem geschärften Sinnen sagten, ob es draußen Sommer oder Winter oder hell oder dunkel war.
Er hielt inne und kniete sich hin, strich über den Boden, dann leckte er sich den Staub von den Fingerkuppen. Die Note war so deutlich wie ein geschriebenes Wort, obwohl die Spur alt war, Jahre mindestens. Beowulf war lange nicht mehr in diesen Gängen gewesen.
Eine schöne verdrehte Wahrheit, dachte er, als er die Augen schloss und den Erschütterungen tausender weit entfernter, kleiner Füße lauschte. Das Gestein leitete sie gut, und er meinte sogar, ein stärkeres Beben zu hören als früher, was zeigte, dass die Stadt über ihren Köpfen gewachsen sein musste.
Es war aber die Mär seiner Wortwahl, mit der er sich seit Jahren selbst betrog – geschärft – die ihm jetzt ein trauriges Lächeln entlockte. Plötzlich kam ihm Turid in den Sinn. Ihre Augen und Ohren und ihr Gespür mochten so scharf sein, wie sie es in der Oberwelt nie gewesen waren, wo einem alle Gerüche und Geräusche wie ein Köter vor die Füße sprangen und darum bettelten, beachtet zu werden. Die Sinne wurden tatsächlich feiner in der Unterwelt, und Beowulf wettete, dass auch sie mittlerweile jeden Atemstoß und jede Luftblase in ihren Adern, und auch den seinen, hören konnte. Und jeden Hauch der Höhle spüren konnte. Keinen Menschen hätte diese natürliche Anpassung an den Verlust des Augenlichts im Stich gelassen, und alle Hingerichteten hätten, wäre auch nur einer von ihnen noch am Leben, von genau diesem Phänomen berichten können.
Nur er selbst nicht.
Beowulf hörte einen Schlag und wandte den Kopf. Turid, unzählige Biegungen und Windungen von ihm entfernt, musste wieder gestolpert sein: Sie erkundete das Trümmerfeld wie ein Kind, das eben laufen gelernt hatte, und nahm dabei keine Rücksicht auf Verluste. Irgendwann würde das noch in einer Katastrophe enden, hatte er ihr mehrfach gepredigt, aber schlussendlich hatte er ihr freie Hand gelassen. Er wusste schließlich, dass sich an dem Ort, wo die Schlucht in eine weite Ebene säumte, keine Spalten und Abhänge befanden, die ihr gefährlich werden konnten. Lediglich mannshohe Felsbrocken, an denen sie sich schlimmstenfalls die Nase brach.
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Turid und die Finsternis
FantasíaDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...