Kapitel 101. Was Hadubrand will

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Kurz sah es so aus, als sei Turid an zwei Orten gleichzeitig. Einen Lidschlag später löste sich ihre Gestalt von der Turmspitze und glitt in Hadubrands Maul wie ein Schatten, aber es blieb doch etwas von ihr dort zurück. Es erinnerte Beowulf an die augenförmige Schlucht und es zeugte davon, dass darin einmal ein Mensch gewesen war, ein wenig so wie ein Fußabdruck in der Luft. Aber vielleicht wünschte er es sich auch nur so.

Das... tut weh, stellte er fest. Mehr als alles, was er mir je angetan hat.

Von da an ging alles sekundenschnell.

Während das Tier einen erstickten Siegesschrei ausstieß, zurücktaumelte und vor Erschöpfung zusammenbrach, segelte das Messer durch die Luft. Kling. Auch blind war sie gut. Nur ein paar Schritte von ihnen entfernt schepperte es gegen die Felsen und rotierte wie ein Kinderkreisel, wanderte gefährlich nah an die Kante, drehte sich ein letztes Mal und kam zur Ruhe.

Ein Beben fuhr durch den Eroberer und dann aus ihm hinaus, wo es die Luft in unmittelbarer Nähe vibrieren ließ. Die verfaulten Hände fingen die Schwingung auf und zuckten neben Beowulfs Ohren. Von seiner Kehle hatten sie sich bereits gelöst, doch frei war noch keiner von ihnen; die Unterarme waren auf Beowulfs Schultern gerutscht und drückten ihn zu Boden. Bestürzt versuchte er, sich freizuschütteln, aber sie waren wie Blei für seinen entkräfteten Körper. „Loslassen!", kreischte er, „ich hole es Euch!"

Der Untote war sichtlich bemüht, sich gegen Hadubrands Magie zu wehren. Es war nicht genug. Und er vertraute Beowulf nicht.

„Es ist Eure einzige Chance!"

Er bewegte sich. Noch ein Stück! Nur noch ein kleines...

Beowulf entkam, warf sich auf den Dolch, wirbelte herum, sah den Eroberer ruhig dastehen, doch er wusste, dass wilde Gier in ihm tobte, und wer genau hinsah, konnte auch das hoffnungsvolle Funkeln in den grauen Kugeln erahnen, endlich vom Fluch der Finsternis erlöst zu werden.

Beinahe sanft drückte er den Griff zwischen die halbverdauten Finger.

Er hatte Recht gehabtDie Hand erhob sich. Ungeheuerlich musste die Willensstärke sein, die der Eroberer gegen Hadubrands Fesseln aufbrachte, und Beowulfs erfahrener Blick erkannte sie als ein fast verlorenes Zeugnis davon, wie groß dieser Krieger einst gewesen war.

In der Luft blieb die Hand stehen. Einen Augenblick lang geschah nichts. Dann stieß sich der Eroberer die Klinge mitten ins Herz.

Beowulf wusste, was passieren würde und es tat ihm nicht leid.

Die Welle aus roher Energie riss sie alle drei von den Füßen. Finsternis umschlang seinen Körper, eine Sekunde später war er schwerelos; schreiend trudelte er in die Tiefe, schlug haarscharf neben dem Abgrund auf, knacks – seine Schulter brach – dutzendfach wirbelte er um sich selbst, bis die Wucht der Explosion sich verflüchtigte. Für kurze Zeit war er taub, blind, dann gar nichts mehr – als er die Besinnung wiederfand, trieb er wie ein Fetzen in der Strömung.

Drumm drumm drumm drumm drumm!, ertönte es von der anderen Seite der Höhle. Hustend taumelte Beowulf auf die Beine, wollte sich herunterreißen, was auch immer ihm auf die Brust drückte, sah an sich hinunter, da war nur Luft. Als zweites fiel ihm auf, dass sein linker Arm ihm nicht gehorchte. Es lag nicht an dem Speer in Hadubrands Schulter. Irgendetwas klemmte. Sein ganzer Körper klemmte.

Das altbekannte, lähmende Gefühl legte sich über seine Glieder, ungewohnt leicht diesmal. Er fuhr herum. Durch den herabfallenden Staub sah er schemenhaft das Tier, verstörter, als er es je für möglich gehalten hatte, unter einem Felsenturm sitzen. Sein Fell war wild zerzaust und die Gliedmaßen schlugen hin und her, als wollten sie sich gegen das verteidigen, was in Gottes Namen eben geschehen war.

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt