Kapitel 29. Wie eine Wölfin

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Ein scharfer Laut zerschnitt die Stille wie ein Peitschenschlag. Es war Turid, die fauchte.

Beowulf hatte nur ein belustigtes Schnauben für sie übrig. Er schien dieser Tage gut gelaunt zu sein, wenn auch nicht sehr redselig, doch stets gewillt, ihr zuzuhören – wann immer sie von Gott und der Welt erzählen wollte. Nicht jedoch, wenn sie sich lautstark beschwerte, so wie jetzt.

„Vorsicht", zischte sie.

„Dann eben nicht", meinte er. Sein Griff lockerte sich und ließ den um ihre Hand festgezurrten Stoff auseinandergleiten. Turid seufzte, als der strenge Zug entwich und auch das Stechen mit sich nahm.

Sie entspannte sich und knetete vorsichtig die rechte Handfläche, streng darauf bedacht, nicht die kurzen Stummel von Daumen und Zeigefinger zu berühren. Die frische Haut fühlte sich nackt an an der kalten Luft. Anders als erwartet aber nahmen ihre Finger Beowulf den beherzten Ruck, mit dem er den Fetzen um ihre versehrte Hand hatte verknoten wollen, nicht übel. Nicht einmal ein dumpfes Pochen blieb zurück.

Am Anfang, da waren die Schmerzen allgegenwärtig gewesen. Nicht das Ächzen ihres Rückens oder das Brennen jedes Stückchens aufgeschürfter Haut oder das lädierte linke Auge. Nein, diese Wunden waren schnell verheilt, teils schon, als sie noch nicht Herrin ihrer Sinne gewesen war – zum Glück, denn so war ihr zumindest diese Tortur erspart geblieben. Aber genau wie früher hatte es lange kein Entkommen vor den Qualen in Hand und Bein gegeben, zweierlei Schmerzquellen, die jedoch gleichermaßen feurig und unerträglich waren. Die fehlenden Finger schienen von außen zu brennen, der gebrochene Knochen von innen zu glühen, das war der einzige Unterschied. Sie hatten Turid beinahe um den Verstand gebracht, trotz des Giftes.

Das Gift... Turid schmunzelte manchmal bei dem Gedanken, wie sehr sie sich vor langer Zeit dagegen gewehrt hatte – jetzt war ihr Hadubrands rätselhafte Substanz lieb und teuer, weil sie eine willkommene Möglichkeit gewesen war, vor dem Leid des Lebens zu fliehen. Wie geflüsterte Worte eines besonders anhänglichen Freundes war dieses Leid gewesen, ein bittersüßer Begleiter, der einen immer daran erinnern will, warum er da ist: Die Schmerzen waren Parolen des Scheiterns, die ihrer Vergangenheit als Bilder in ihrem Kopf neues Leben einhauchten, sodass Turid im Schlaf wieder das Raubtierbrüllen in der Höhle hallen hören konnte und sich auf ihrem Rücken eine Gänsehaut bildete. Dann waren der kleine Schnitt und das eifrige Tröpfeln ihre Rettung gewesen.

Dennoch war sie froh, seit einigen Tagen – oder waren es Wochen? – nur noch betäubt und nicht mehr eingeschläfert zu sein. Einerseits konnte sie so hören, riechen und fühlen, was um sie herum geschah; natürlich fürchtete sie sich nicht vor Beowulf oder Hadubrand wie damals, doch war es ihr eine Sache der Würde. Es tat gut, zu wissen, wann sie berührt wurde und wann es nur ein Traum war. Auch wenn Beowulf zwar ihre Hand fast täglich begutachtet, ihr Bein aber nie mehr angefasst hatte, seit er den Knochen hatte einrenken müssen.

Andererseits, und das war der springende Punkt, waren diese Erinnerungen stets hohl und nicht intensiv gewesen, nie lebensecht. Als befinde sich noch etwas anderes zwischen ihnen und der Turid, die in diesem Augenblick recht entspannt in Wolle eingewickelt auf ihrem Felsen ruhte und an die schwarze Decke starrte. Sie war froh, dass sie wieder fühlen konnte. Sonst hätte sie dieses Feuer, das sich in dieser dunklen Stunde in ihrem Inneren entzündet hatte, als sie es am wenigsten erwartet hatte, niemals erfahren: Wann immer die Leere sie zu übermannen versuchte – der Gemütszustand der Hoffnungslosen, die glauben, dass alles vorbei ist – sagte Turid sich, dass von nun an nur alles besser werden konnte. Dass sie die Siegerin war. Es machte alles so leicht und so hoffnungsvoll.

Ja, seit sie diese schicksalhaften Sätze mit Beowulf gewechselt hatte, fand Turid, dass es sich leben ließ. Auch in einem zerstörten Körper, auch in einer Höhle, die finster war und in Trümmern lag, der der Winter aus allen Ritzen und Spalten kroch, auch in einem Zustand der Unwissenheit, ob sie jemals wieder die Sonne sehen würde. Es war einfach nur gut, atmen zu dürfen.

Turid und die FinsternisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt