~
Der Wind pfiff so grob durch Turids Kleid, dass sie genauso gut auf der Spitze eines Berges hätte stehen können. Aus der schmalen Öffnung hinter ihr zischte er hinaus, gebündelt und eingesogen von einem gewaltsamen Unterdruck; in die zerklüfteten Steilwände rauschte er hinein und versank in der Schwärze. Turid konnte hören, wie er sich an den gigantischen Felsbrocken der Schlucht brach, an ihnen leckte und über sie hinwegsauste, bis er in den höheren Gefilden die halsbrecherische Geschwindigkeit einer Sturmböe erreichte. Als sie den Graben vor nicht allzu langer Zeit hinuntergestürzt war, hatte sie nur den Luftzug ihrer eigenen Flucht gespürt und wehende Haare über ihrer Schulter. Auch ihr Keuchen war kalt und schneidend gewesen. Aber diese gewaltigen Wirbel... die Lawine musste ein Loch zwischen zwei Gesteinsschichten gerissen haben, das dem Wind zur Pforte geworden war. Und er war laut; lauter als das meiste, was Turid in der Höhle zu hören bekam. Allein ihre fest auf die Ohren gepressten Hände vermochten das Brausen zu dämpfen.
Niemals zuvor hatte die Höhle eine solche Welt in sich verborgen: Wie erstarrt zierte Turids Gestalt die Trümmer dessen, was unter dem sternlosen Baldachin einst pechschwarze Klippen gewesen waren. Zu ihren Füßen thronten wuchtige Brocken, in der Schlucht verstreut wie abgehauene Köpfe steinerner Kolosse. Zwischen ihnen wirkte ihr verkümmerter Körper wie ein Glühwürmchen in der Nacht: Die blasse Haut leuchtete ebenso wie die Überreste des Stoffes darauf, von dem Turid nie wissen würde, dass er einmal weiß gewesen war.
Zweifel? Nicht im Geringsten. Turid brauchte keine Bilder vor ihren Augen, keine Spuren unter ihren Füßen, keine Duftnoten in ihrer Nase. Das Bewusstsein um diesen Ort hatte sich so tief und heiß in ihre Seele gebrannt, dass sie ihn noch als Greis wiedererkannt hätte: Hier war es gewesen.
Beinah konnte sie den Geist der Szene an sich vorbeirauschen fühlen – eine verdreckte Gestalt mit in Todesfurcht aufgerissenen Augen, die hier mehr entlangflog als rannte, in ihrem Nacken das Brüllen eines Biestes, nun lange verstummt. Aber sein Nachhall war noch da. Beißend füllte er ihren verschlossenen Gehörgang, bis sie nicht anders konnte, als sich die Hände wieder von den Ohren zu reißen.
Wie in Trance glitt Turids Körper nach vorn, den Felsformationen entgegen.
Welche verheerende Schneise der Einsturz auch immer angerichtet haben mochte, dieser Teil der Schlucht war beinah erhalten. Mit links und rechts weit ausgestreckten Armen drehte sie sich durch die Schuttmassen und vollführte so einen grotesken Tanz in der Dunkelheit, dessen Schritte immer behutsamer wurden, desto weiter sie sich vom Spalt entfernte. Ihre Fingerspitzen strichen dabei erst über winzige Kiesel und dann über Felsbrocken, in die sie tausendfach gepasst hätte. Bald hatte sie ihn gefunden: Einen eigenartig runden Stein, der sich gerade so noch heben ließ. Ein kurzes Tasten und Turid atmete aus – auch wenn Form und Maße an die Fratze eines Schädels erinnerten, es war keiner. Zu schwer. Zu rau. Deshalb aber nicht minder erschreckend.
Es war der Stein, der die Hatz wie ein Blitzschlag beendet hatte, derjenige, der sie den Abhang hinuntergeschickt hatte. Wieder drehte sich ihr der Magen um, als die Erinnerung an den Fall zurückkehrte, wie sie über die große Schräge geschlittert war, die nicht weit von ihren Füßen entfernt in der Finsternis lauerte. Kaum eine Handbreit hatte sie damals von jener schrecklichen Bodenlosigkeit getrennt, die links und rechts an der Platte vorbeilief; sie hatte die Fallwinde gespürt, das Brodeln aus einer unbekannten Tiefe, aus der jetzt der Sturm nach oben rauschte. Vielleicht eine Bewegung mehr, und sie wäre über die Zacken des Abgrunds gefegt worden und der Eroberer mit ihr. Und obwohl Turid dankbar war, wie wild ihr das Herz gegen die Rippen schlug und dass es schlug, ein tief vernarbter Teil von ihr wünschte sich, sie wäre gefallen – dann hätte sie vor dem Sterben erfahren, welche Sphären den Wind dort unten schöpfen mochten.
DU LIEST GERADE
Turid und die Finsternis
FantasiaDie Hinrichtung einer jungen Frau steht kurz bevor. Um ihre Würde zu bewahren, akzeptiert sie einen grausamen Tod: Sie soll einem Ungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden. Ihr Schicksal nimmt eine Wendung, als das Wesen - scheinbar halb Mensch, halb T...