Kapitel 6

1.8K 97 13
                                    

Nachdem die letzten Wochen eher unspektakulär von Statten gegangen waren, standen Lysanna nun wohl die beiden interessantesten Wochen ihrer Eingewöhnung bevor. Sie verstand sich mit ihren Kollegen mittlerweile gut, ausgenommen von Lockhart, der nach wie vor nicht verstehen wollte, dass sie kein Interesse an ihm hatte, und Snape, mit dem sie seit der nächtlichen Begegnung bislang kein weiteres Wort gewechselt hatte, obwohl er tagtäglich neben ihr am Tisch saß.

Aber zunächst würde sie Lockhart und sein übertriebenes Gehabe eine ganze Woche lang ertragen müssen. Bei dem Gedanken daran, ihn einfach mit einem kleinen Zauber mundtot zu machen, musste sie lachen und erntete dafür prompt einen tadelnden Blick ihrer Tante, die scheinbar zu wissen schien, was in Lysannas Kopf vor sich ging.

Die beiden waren heute vor allen anderen beim Frühstück, so blieb zumindest ein kleiner Moment der Ruhe bis...

"Guten Morgen alle miteinander!", rief Lockhart theatralisch und bewegte sich schnellen Schrittes auf die Lehrertafel zu.

Neben Lysanna war leider noch ein Platz frei, da Professor Snape, der dort üblicherweise saß, aus irgendeinem Grund noch nicht aufgetaucht war. Normalerweise war er immer einer der ersten am Morgen und einer der letzten am Abend.

Gerade als Gilderoy Lockhart seine Hand auf den freien Stuhl neben Lysanna legen wollte, um sich zu setzen, flog die kleine Tür auf, die direkt in ein kleines Treppenhaus führte und heraus kam, mit wehendem Umhang, Professor Snape. Lysanna wusste nicht, ob sie jemals so froh war, ihn zu sehen, wie genau in diesem Moment.

"Es ist nicht nötig, dass sie mir den Stuhl zurecht rücken, Gilderoy! Sie können sich jetzt gerne auf ihren Platz setzen.", zischte Snape beinahe flüsternd, jedoch war seine tiefe Stimme nicht zu überhören.

Wie versteinert starrte Lockhart ihn an, als er ihm mit finsterer Miene den Stuhl entriss, den Lockharts Hand gerade zu berühren gedroht hatte.

Schmunzelnd, jedoch durchaus beeindruckt von dem überraschenden Auftritt Snapes, musterte Lysanna die beiden Professoren. Madame Hooch, die neben Hagrid einige Plätze weiter saß warf ihr ein überraschtes Grinsen zu. Lysanna hatte in der Woche bei Rolanda eine enge Verbindung zu der taffen Fluglehrerin aufgebaut und hatte schnell festgestellt, dass sie sich als wahrscheinlich einziges weibliches Mitglied des Kollegiums, neben Lysanna selbst, nicht von Lockharts Gehabe beeindrucken ließ.

-

Es erfüllte Severus mit einer seltsamen inneren Zufriedenheit diesen kleinen Triumph gegen den großen berühmten Gilderoy Lockhart errungen zu haben. Die Angst stand diesem Trottel förmlich ins Gesicht geschrieben, als er ihn zurechtgewiesen hatte. Lysanna hatte kein Wort gesagt, aber Severus war sicher, dass sie für diese buchstäblichs Rettung in letzter Sekunde sehr dankbar war. Die Blicke, die sie mit Hooch gewechselt hatte, hatten jedenfalls Bände gesprochen.

Er hatte viel über die junge Hexe nachgedacht, zu viel, wenn er ehrlich war. Und er konnte nur schwer vor sich selbst verleugnen, dass sie seit dem nächtlichen Treffen eine gewisse Faszination auf ihn ausübte. Die Art wie sie beobachtete, der Blick, der jedes noch so kleine Detail wahrzunehmen schien, dazu die eleganten Bewegungen, die zugegebenermaßen eher dezente Kleidung und dieser betörender Geruch, der ihm seit dem Vorfall auf dem Gang nicht mehr aus der Nase gehen wollte. Der Duft von einer mit Wildblumen übersäten Lichtung im Wald nach einem leichten Regenschauer, gemischt mit einer Nuance Bergamotte und dem letzten Hauch des rauchigen Whisky, den sie offenbar kurz vor ihrem eher ungeplanten Zusammentreffen getrunken hatte. Noch nie hatte er etwas Vergleichbares gerochen. Und immer wieder musste er unweigerlich an ihre Augen denken, die ihn fixiert hatten, wie eine Raubkatze ihre Beute.

Das Frühstück lenkte ihn zumindest etwas von den Gedanken an sie ab, wobei die Tatsache, dass sie dabei nur wenige Zentimeter neben ihm saß, nicht gerade hilfreich war.

Es war nun Anfang Oktober, die Hügel rund um das Schloss waren vom Herbstlaub bunt gefärbt und er hoffte inständig, dass die Zeit bis zu den Weihnachtsferien schnell vorüber gehen würde, damit er endlich etwas Ruhe finden konnte und die Kontrolle über seine Gedanken zurück bekommen würde. Dann gäbe es wieder nur ihn und seine Erinnerungen an Lily.

-

Lysanna hatte Rolanda in ihren Plan eingeweiht. Die kommende Woche mit Lockhart würde entweder in einem geknebelten und gefesselten Professor Lockhart enden, oder... nein, eigentlich war das die einzige denkbare Lösung, es sei denn, Lysannas Plan würde aufgehen. Sie hatte sich am vergangenen Wochenende bewusst in ihren Gemächern verkrochen, um den Eindruck erwecken zu können, sie wäre verreist. Dies war der letzte große Auftritt von Theodor.

Auf Lysannas Kommando, würde Rolanda aufstehen und sie zunächst in ein unverfängliches Gespräch über die letzte Woche verwickeln, dann, wenn sie Lockharts Aufmerksamkeit hatten, würde die alles entscheidende Frage kommen.

Während Rolanda die Tafel umrundete, beschleunigte sich Lysannas Herzschlag. Ihr Plan musste einfach funktionieren.

"Lysanna, könnte ich dich kurz sprechen?", fragte Rolanda wie abgesprochen. Lysanna nickte, stand auf und die beiden entfernten sich etwas von der Tafel. Immerhin mussten sie sicher gehen, dass sie Lockharts Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden.

Vertieft in ihren Plan bemerkte Lysanna nicht, dass Lockhart nicht der einzige war, dessen Aufmerksamkeit sie auf sich gezogen hatte.

-

"Ja, danke! So sehe ich das auch. Wie war denn das Wochenende zuhause in London? Theodor muss sich sehr gefreut haben, dich wieder zu sehen.", fragte Rolanda so laut, dass es wirklich jeder in der Halle hätte hören können.

Theodor. Der Name hallte in seinem Kopf wider, wie ein nicht enden wollendes Echo. Natürlich. Jetzt ergab alles einen Sinn.

"Es war herrlich wieder Zuhause zu sein, wenn auch nur für das Wochenende. Aber in den Ferien können wir endlich wieder mehr Zeit miteinander verbringen. Ich bin so froh, dass ich in ihm einen Mann gefunden habe, der Verständnis für meine Situation zeigt.", antwortete Lysanna, wobei ihr die Worte ein wenig zu flüssig über die Lippen kamen. Aber das konnte auch nur Einbildung sein.

Er spürte, wie langsam Wut in ihm hoch kochte, Wut auf sich selbst und seine eigene Dummheit. Ja, er hatte sich dem Gedanken hingegeben, wie es wäre Lysanna näher zu kommen, hatte darüber nachgedacht, warum sie sein Interesse geweckt hatte, aber jetzt hasste er sich dafür, dass er seinen kostbaren Geist, seine Gedanken für eine Frau verschwendet hatte, die bereits einem anderen Mann versprochen war. Es war mehr als töricht von ihm gewesen, zu glauben, dass sie, nur weil sie ihm die Stirn geboten hatte und nicht sofort die Flucht ergriffen hatte, tatsächlich Interesse an ihm haben könnte. Ein Narr war er, ein törichter Narr.

Das einzige, was ihn in diesem Moment davon abhielt, fluchtartig den Speisesaal zu verlassen, war Lockharts Gesicht, dass, während er Lysannas Worte hörte, in tausende Stücke zu zerbrechen schien.

"Alte Runen" eine Severus Snape FF - Snape x OCWo Geschichten leben. Entdecke jetzt