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Meine Aufmerksamkeit wurde von meinem Buch geschreckt, als Kim sich auf die Oberschenkel schlug und aufstand. „Wir sollten uns langsam auf dem Weg machen."

„Wohin?", fragte ich und folgte Kim mit meinem Blick, als sie sich Schuhe aussuchte und diese anzog.

Dabei warf sie mir einen ungläubigen Blick zu. „Dein Ernst?"

Ich legte meinen Kopf schief und versuchte mich an etwas zu erinnern.

Sie schien mein Schweigen richtig einzuschätzen, denn nach wenigen Sekunden, fügte sie die Erklärung von selbst hinzu. „Ich hab dir doch erzählt, dass Oli und ich einen romantischen Abend in der Stadt verbringen wollen."

Mein Blick wanderte von Kim zu Oli, der ebenfalls aufgestanden war. Es stimmte, dass Kim mir das vor ein paar Tagen erzählt hatte, aber ich hatte gedacht, dass das erst für morgen geplant gewesen war, was ich ihr auch mitteilte.

„Ganz am Anfang war es auch für morgen gedacht,", berichtete Oli, der schon an der Tür stand und darauf wartete, dass Kim noch einmal ihr Spiegelbild überprüfend gemustert hatte. „aber wir haben dann doch gesagt, dass wir es heute machen, weil es ja wahrscheinlich später wird und morgen Sonntag ist."

„Das haben sie uns aber auch erzählt.", fügte Robin hinzu, der es sich rücklings auf meinem Bett gemütlich gemacht hatte.

Als er sich zu mir aufs Bett gesetzt hatte, war ich aufgestanden und seitdem saß ich auf dem Boden an die gläserne Tür des Balkons gelehnt. „Ja, kann gut sein. Das hab ich wohl vergessen." Ich zuckte mit den Schultern und schaute wieder zu Kim, die nun auch bereit war. „Viel Spaß euch."

„Danke.", sagten die beiden zur selben Zeit und liefen händchenhaltend nach draußen, wodurch sie Robin und mich in unserem Zimmer zurückließen.

Um Robin die Zeit zu geben zu gehen, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die letzten Seiten meines Buches, doch selbst als ich das Buch beendet hatte und zuschlug, machte er keine Anstalten sich zu bewegen. Ganz im Gegenteil, er hatte seine Hände hinterm Kopf verschränkt und schien sich sehr wohlzufühlen.

Räuspernd rappelte ich mich auf und beobachtete dabei, wie er die Augen öffnete und seinen Kopf zur Seite legte, um mich anzuschauen, doch mehr schien er nicht machen zu wollen.

Mit hochgezogenen Augenbrauen, fragte ich ihn: „Bleibst du hier liegen?"

Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht."

„Was für eine aufschlussreiche Antwort." Augenverdrehend bückte ich mich nach meinem Rucksack und sammelte die drei Bücher ein, die ich in der letzten Woche beendet hatte. „Schließ doch dann bitte die Tür, okay? Ich geh in die Bücherei."

„Oh! Da komme ich doch mit!", rief er und sprang aus dem Bett.

„Bitte?", fragte ich perplex. „Was willst du denn in der Bücherei?"

„Ein Buch ausleihen?", gab er grinsend zurück.

„Seit wann liest du Bücher?"

„Seit ich lesen kann." Er legte seinen Arm um meine Schultern und führte mich Richtung Tür. „Ich lese sehr gerne und fast täglich."

„Verarschen kann ich mich selber."

„Das ist mein Ernst!" Er hielt mir die Tür auf und deutete eine Verbeugung an, als ich an ihm vorbei lief. „Es ist überraschend, wie wenig du über mich zu wissen scheinst. Ich lese sehr viel und sehr gerne. Nur mache ich das, im Gegensatz zu dir, eigentlich nur, wenn ich allein bin. Nicht unten am See, sondern nachts vor dem Schlafen gehen oder morgens, direkt nach dem Aufstehen."

Überrascht von dieser Aussage, blieb ich stehen und sah ihm dabei zu, wie er mit seinem Schlüssel meine Zimmertür zuschloss.

„Du bist übrigens immer noch die Einzige, die darauf besteht die Tür abzuschließen. Hier wurde noch nie etwas gestohlen."

„Irgendwann ist immer das erste Mal."

„Ein bisschen Optimismus würde dir nicht schaden." Er steckte den Schlüssel in seine Hosentasche. „Dann gehen wir doch mal los."

Er schien es ernst zu meinen. Ich hätte nicht gedacht, dass Robin gerne las. Nicht nur, weil ich ihn noch nie lesen gesehen habe, sondern auch weil... Ja, warum eigentlich? Ich musste mir selbst eingestehen, dass es vermutlich nur daran lag, dass ich nicht glauben konnte, dass er und ich eine Gemeinsamkeit hatten. Lesen war aber nicht gleich lesen. Es war ja keine richtige Gemeinsamkeit, wenn wir ganz unterschiedliche Bücher lasen. Wenn jemand gerne Handball und ein anderer Fußball spielte, sprach man schließlich auch nicht von einer Gemeinsamkeit, auch wenn beide eine Ballsportarten mochten.

Wir liefen schweigend zur Bücherei. Diese lag im großen Gebäude hinter der Mensa im vierten Stock. Ohne zu zögern, steuerte ich auf die Treppe zu, obwohl sich die Fahrstuhltür gerade öffnete und jemand herauskam. Ob Robin lieber mit dem Fahrstuhl gefahren wäre, wusste ich nicht, aber zumindest sagte er nichts und zeigte auch sonst keine Gefühlsregung. Es war schon Jahre her, dass ich das letzte Mal mit einem Fahrstuhl gefahren war, und zwar nicht, weil ich stecken geblieben war oder eine andere schlechte Erfahrung gemacht hatte, sondern einfach, weil Manu und ich das als kleine Trainingseinheit im Alltag gesehen hatten. Als Trainingseinheit, aber auch als ein Spiel, wer am schnellsten oben war. Meistens hatte er gewonnen und ich hatte immer beteuert, dass das nur daran lag, dass er durch seine Größe einen Vorteil hatte, aber wahrscheinlich lag es auch daran, dass ich zwar sehr sportlich gewesen war, aber es doch etwas anderes war etwas im Wasser zu machen oder am Land.

Im Wasser hätte ich ihn immer und überall besiegt. Da hätte er gar keine Chance gehabt.

Gestört hatte mich meine Niederlage aber eigentlich nie.

Oben angekommen stellte ich fest, dass die Bibliothek, wie eigentlich immer, leer war. Aus irgendeinem Grund schienen alle diesen Ort zu meiden. Ich wusste nicht, woran es lag. Vielleicht daran, dass sie nicht als Nerd abgestempelt werden wollten? Was dumm wäre. Lesen machte einen nicht automatisch zum Nerd. Ganz abgesehen davon, dass es nicht schlimm war ein Nerd zu sein, aber in der von Hollywood geprägten Welt wurde das als etwas Negatives aufgefasst. Vielleicht lag es auch daran, dass hier nicht die brandaktuellsten Bücher ausleihbar waren? Oder aber an diesem Internat mochte es wirklich keiner bis auf mir, und scheinbar Robin, zu lesen. Das konnte ich mir aber eigentlich nicht vorstellen. Es war zwar nicht mehr so verbreitet wie früher, aber dass keiner meiner Lesen mochte, wäre mir auch neu.

Der Bibliothekar, Hans, der hinter der Ausleihtheke auf seinem Sessel saß und ein Buch las, nickte mir lächelnd zu, welches ich erwiderte, bevor ich hinter einem der Regale verschwand, dicht gefolgt von Robin.

Es waren insgesamt drei, die hier abwechselnd arbeiteten und mich alle drei mittlerweile gut kannten, obwohl ich noch gar nicht so lang hier war, aber mindestens einmal pro Woche, stattete ich ihnen einen Besuch ab und unterhielt mich dann auch häufig mit ihnen über Bücher. Sie hatten mir schon einige gute Bücher empfohlen, die ich sonst vielleicht nie gelesen hätte.

Ohne recht zu wissen, was ich suchte, lief ich die Regale entlang und strich dabei über die Buchrücken. Ab und zu blieb ich stehen, um eines davon rauszuziehen und mir genauer anzuschauen. Ich wusste nicht, worauf ich Lust hatte. Ich hoffte einfach, dass mir etwas ins Auge fallen würde. Ansonsten würde ich wohl doch nach einer Empfehlung fragen müssen.

Greatest Love but Greatest FearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt