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Auch wenn es lange gedauert hatte die Treppen hochzusteigen, hatte ich es geschafft. Ich stand oben am Treppenabsatz. Bereit die obere Etage zu erkunden, oder vielleicht auch eben nicht. Jede Faser meines Körpers schien zu rebellieren Und doch wusste ich oder zumindest ein Teil von mir, dass es genau das war, was ich jetzt tun sollte. Es war das Richtige. Es wurde Zeit. Wenn ich es jetzt nicht tat, würde ich es nie tun. Ich muss das jetzt einfach durchziehen. So schwer es eben war. Ich war auch nicht allein. Robin war an meiner Seite. Mit ihm hatte ich all den Rest überstanden, da konnte ich jetzt auch das schaffen. Ich musste einfach. Um meiner selbst willen.

Trotzdem war ich erstarrt als ich sah, dass die Türen alle offen standen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte gedacht, dass ich die Möglichkeit haben würde, mich vor jeder Tür zu sammeln und nicht bereits mit dem fertig werden musste, was ich von drüben erblicken würde.

Als würde Robin meine Gedanken lesen können, fragte er: „Soll ich die Türen schließen?"

Ich nickte und schaute erst wieder vom Boden auf, als ich die letzte Tür ins Schloss fallen hörte.

Der Ton fungierte für mich als Startschuss. Ich durfte nicht zu viel darüber nachdenken. Ich musste einfach handeln.

Ich hatte nie aktiv darüber nachgedacht, aber ich wusste ganz genau mit welcher Tür ich beginnen würde. Es war das Zimmer, mit dem ich am wenigsten verband. Das Zimmer, dass ich am seltensten betreten hatte.

Das Zimmer bestand aus vielen Schränken und Regalen, in denen sich Ordner angehäuft hatten und einem sehr langen Tisch unterhalb der Fenster. Die ganze Breite des Zimmers lief der Tisch entlang und bot so ausreichend Platz, um zwei vollständige Arbeitsplätze unterzukriegen.

„Meine Eltern haben ab und zu von zuhause gearbeitet, aber vor allem habe sie hier so Sachen gemacht, wie die Steuererklärung, Versicherungen und den ganzen Kram. Wenn sie hier drinnen waren, wusste man eigentlich immer, dass es kein guter Zeitpunkt war. Sie wollten das, woran auch immer sie in diesem Moment arbeiteten, fertig kriegen. Es war also besser zu warten, bis sie rauskamen. Ich mein, sie hätten nichts gemacht, wenn wir reingekommen wären. Sie hätten uns auch nicht angeschrien oder so, aber trotzdem haben wir sie nie gestört, außer es war wirklich etwas wichtiges. Einmal, zum Beispiel, war Manu vom Fahrrad gefallen. Ich war nachhause gerannt und musste feststellen, dass beide hier drinnen waren. Auch bevor sie wussten, dass wirklich etwas vorgefallen war, haben sie nichts darüber gesagt, dass ich störte..."

„Ging es Manu gut?", fragte Robin, als ich eine Weile nichts mehr gesagt hatte.

„Er hatte sich den Arm gebrochen."

„Oh, der Arme..."

„Ach was." Ich zuckte lachend mit den Schultern. „Der hat einen Gips bekommen und war mehr als glücklich. Er wollte zuerst, dass jeder unterschrieb, doch stattdessen hatte Lisa sich die Aufgabe gemacht ihn zu bemalen. Sie malte eine Waldlandschaft und es sah wirklich toll aus, was gar nicht so einfach ist, weil so ein Gips natürlich keine flache Unterlage bildet. Er war wohl bei der Gipsabnahme trauriger als er gewesen war, als er zum ersten Mal in Krankenhaus gewesen war.

Auch das nächste Zimmer überstand ich mit wenig mehr als einem viel zu schnellem Puls.

Ich hatte nie verstanden, warum Elternschlafzimmer immer die größten waren. Es waren doch immer die Kinder, die alles in ihrem Zimmer taten. Für sie spielte sich alles in diesen vier Wänden ab. Wenn sie Freunde zu Besuch hatten, dann waren sie im Zimmer. Wenn sie spielten, dann im Zimmer. Wenn sie Hausaufgaben machten oder lernten, dann im Zimmer. Wenn sie schliefen, dann im Zimmer. Alles geschah im Zimmer.

Eltern jedoch schliefen in ihrem Zimmer. Das wars. Gäste wurden im Wohnzimmer empfangen, Arbeit im Arbeitszimmer verrichtet.

Das Zimmer war aber ein reines Schlafzimmer. So unpersönlich sah es auch aus. Einige Bücher auf dem Nachttisch war das Einzige, was einen direkten Rückschluss auf die Person erlaubte, die dort lebte. Beziehungsweise gelebt hatte.

Greatest Love but Greatest FearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt