„Ich wachte im Krankenhaus wieder auf.", fuhr ich fort. Die Tränen waren versiegt, aber meine Augen brannten noch. Mit einer Hand hatte ich weiterhin den Ring umschlungen. Die andere hatte Robin genommen und sie mit seiner verschränkt. „Es war alles... Ich kann mich nicht mal mehr richtig daran erinnern. Es sind nur Momentaufnahmen, die ich noch weiß. Wie sich herausgestellt hatte, hatte auch ich einige Scherben abbekommen. Abgesehen von dem Schnitt an der Hand, den ich mir wohl zugezogen hatte als ich meinen Vater rausgeschnitten hatte, hatten sich wohl schon vorher eine in meinen Bauch gebohrt. Ich hatte das gar nicht gespürt. Doch die Ärzte redeten von großem Blutverlust. Sie redeten immer wieder auf mich ein. Sie wiederholten die ganze Zeit ich sei eine Heldin. Ich sei so stark gewesen. Dass sie gar nicht glauben konnten, was ich alles getan hatte. Dass ich nicht selbst in Ohnmacht gefallen war. Trotz des Blutverlustes und des Schocks. Ich hatte wohl auch eine Gehirnerschütterung gehabt und keine Ahnung was noch alles. Sie sagten mir das immer wieder, aber keiner von ihnen beantwortete mir meine Fragen. Sie erzählten mir nicht, wie es meiner Familie ging. Niemand erzählte mir was. Ich wollte Antworten. Ich wollte wissen, wie es ihnen ging. Wollte wissen, ob sie... Ob sie... Ob sie... überlebt hatten." Mein Herz hatte sich schmerzhaft zusammengezogen. „Niemand erzählte mir etwas, bis die Polizei kam. Freund und Helfer, nicht wahr? Nur waren sie am Anfang weder Freund noch Helfer. Sie verlangten von mir, dass ich alles erzählte. Dass ich wiederholte, was geschehen war. Jedes Detail. Ich meinte ich wolle erst Antworten auf meine Fragen, aber sie sagten, dass es wichtig sei, so früh wie möglich von mir alles zu hören, damit ich nichts vergaß. Als hätte ich das jemals vergessen können. Die Bilder waren damals noch genauso deutlich in meinem Kopf, wie als sie geschehen sind. Genauso wie jetzt... Ich erzählte es ihnen. Sie hakten nach und ich erzählte noch mehr. Jedes noch so kleine Detail. Es war als würde ich alles noch einmal erleben. Aber als sie endlich zufrieden waren, setzte sich die Frau auf meine Bettkannte. Sie hatte meine Hand in ihre genommen und dann erzählte sie mir, dass... Sie erzählte mir, dass alle drei tot waren."
Ich folgte Robins Hand mit meinem Blick, um festzustellen, dass er sich die Tränen von den Wangen wischte.
Schnell wendete ich den Blick wieder ab. „Manu und meine Eltern... Alle drei waren tot. Mama war direkt gestorben. Manu hatten sie nicht mehr wiederbeleben können und Papa... Er hatte es lebend ins Krankenhaus geschafft, doch war dort gestorben... Nur ich hatte überlebt. Ich... und der Mann. Der Mann, der das andere Auto gefahren hatte. Der Mann mit so viel Alkohol im Blut, dass die Ärzte sagten, dass es sie wunderte, dass er überhaupt noch in der Lage gewesen war zu sitzen. Geschweige denn Auto zu fahren..."
„Arsch.", stieß er aus. „Sorry, bin schon still."
„Schon gut.", erwiderte ich. „Du hast mir schon lange genug zugehört..."
Er blieb still. Gab mir Raum, um weiterzuerzählen, aber ich war mir sicher, dass er es mir auch nicht übelnehmen würde, wenn ich ebenfalls schwieg.
„Sie waren alle tot. Meine Familie war tot." Mein Herz schlug mittlerweile langsam. Es war komisch. Mein Körper schien sich zu beruhigen, obwohl ich darüber sprach. Oder vielleicht, eben weil ich darüber sprach. „Die nächsten Tage oder Wochen besser gesagt, flogen an mir vorbei, ohne dass ich wirklich anwesend war. Man schickte mich in Therapie. Ich hatte die Reisetaschen von dem Hotel geholt, in dem wir gewesen waren. Ich konnte nicht nachhause. Ich konnte nicht mehr dorthin. Da wären zu viele Erinnerungen... Ich kam in ein Heim, für eine Weile, aber nicht lang... Es stellte sich heraus, dass ich doch noch eine Verwandte hatte. Ich hatte sie nie getroffen und sie wusste auch nichts von uns. Es war auch keine nahe Verwandte, aber eben eine Verwandte. Unser Anwalt, der Anwalt meiner Eltern, der den Nachlass verwaltete, war ein guter Freund gewesen. Er hat sich um alles gekümmert. Meine Eltern hatten erst einige Monate davor ein Testament aufgesetzt. Man hatte ihnen damals oft gesagt, dass das unnötig sei. Dass es doch noch so lange dauern würde, bis sie starben... aber sie hatten gemeint, dass falls etwas geschehen sollte, dass sie dann wenigstens alles geklärt haben wollten, damit... damit Manu und ich uns nicht um alles kümmern müssen... Oder in diesem Fall, ich allein. Da Manu auch... da er auch tot war und wir keine anderen Verwandten hatten, also bis auf Julia, aber von ihr hatten sie erst in der Woche vor dem Unfall erfahren durch einen alten Brief meiner Großeltern, aber naja egal... Es ging alles auf mich. Ich war die alleinige Erbin... Aber ich wollte das alles gar nicht. Ich wollte sie. Ich wollte meine Familie. Ich hatte dem Anwalt gesagt, dass er das Haus verkaufen sollte. Er meinte, dass ich das nicht tun solle. Vor allem nicht, ohne die Sachen geholt zu haben, aber ich wollte nie wieder dort hin. Ich konnte dort nicht mehr hin. Ich hatte nicht den Mut dahinzugehen. Ich wollte keine bekannten Gesichter sehen. Ich wollte nicht in diese Stadt zurück, in diese Straße. Ich wollte nicht in das Haus. Dort wo wir eine Familie gewesen waren. Ich hatte sie alle verloren. Sie waren alle tot. Und es war meine Schuld."
„Nein! Das war nicht deine schuld! Sag das nicht!"
„Das sagen alle." Ich verdrehte die Augen. „Aber es ist meine Schuld. Wenn ich nicht gewesen wäre, wären wir dort nie lang gefahren. Wir waren wegen des Wettkampfs da und bei dem Unfall hatte ich alles falsch gemacht. Ich hätte nicht... Ich hätte schneller sein müssen. Ich hätte besser sein müssen. Wenn ich Papa sofort rausgeholt hätte, hätte er vielleicht überlebt. Er hätte mir vielleicht helfen können. Er wäre nie bewusstlos geworden. Ich hätte direkt zu Manu gehen können. Vielleicht wäre es da noch nicht zu spät gewesen."
„So darfst du nicht denken. Das ist deine schuld gewesen. Du hast alles getan, was du konntest. Du hast alles versucht."
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Greatest Love but Greatest Fear
Teen FictionElles Leben hatte sich von einem auf den anderen Tag geändert. Nichts war mehr gewesen wie bisher. Sie hatte alles verloren. Doch dieser Tag war nun schon drei Jahre her und trotzdem war sie noch immer nicht bereit loszulassen. Aber ihr Umzug in da...