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Es fehlte mittlerweile nur noch ein Tuch. Ich war bisher an diesem Einrichtungsgegenstand herumgeschlichen, da ich genau wusste, was mich darunter erwartete. Vermutlich hatte auch Robin es bereits erraten. Schließlich war die Form doch recht markant. Ich umkreiste es einmal und strich dabei mit meiner Hand über die Oberfläche, um die Plane dann, ohne weiter darüber nachzudenken, runterzuziehen. Zum Vorschein kam ein wunderschöner schwarzer Flügel. Meine Mutter hatte ihn von ihrem Vater geerbt bekommen. Sie konnte zwar auch Klavier spielen, aber mein Bruder war der Meister gewesen. Wie sehr ich es geliebt hatte auf dem Sofa zu liegen und ihm nur beim Spielen zu lauschen.

Ich legte mich auf das Sofa und dachte daran zurück. Es war fast als könnte ich die Musik noch immer hören, auch wenn es Jahre her gewesen war, dass jemand diese Tasten berührt hatte.

Kopfschüttelnd richtete ich mich wieder auf. Mein Blick fiel dabei auf eine Ausgabe „Little Women" von Louisa May Alcott. Ich schlug die Hand vor den Mund.

Wenn es um den Tag des Unfalls ging, erinnerte ich mich immer nur an die Rückfahrt. Die Fahrt bei der alles passiert war. Vielleicht dachte ich hin und wieder auch über den Wettbewerb nach, aber über die Hinfahrt hatte ich seit Ewigkeiten nicht mehr nachgedacht und doch erinnerte mich genau daran, wie Mama in ihrem Rucksack gekramt hatte und dann seufzend aufgegeben hatte. Sie hätte ihr Buch vergessen und dabei fehlten ihr nur noch wenige Seiten. Sie wolle unbedingt wissen, wie Jos Geschichte endet.

Ich griff nach dem Buch und flog mit dem Daumen über die Seiten. Im letzten Viertel steckte ein buntes Lesezeichen mit der Aufschrift „Für die beste Mama der Welt" und unterschrieben mit einem krakeligen „Elle". Wir hatten das im Kindergarten gemacht für den Muttertag.

Eine Träne tropfte auf die Seite. Schnell wischte ich sie weg und legte das Buch wieder zurück.

Achim hatte es wohl ziemlich ernst gemeint. Es war alles beim Alten geblieben. Sie hatten nichts an dem Haus geändert. Naja, fast nichts. Abgesehen davon, dass sie alles zugedeckt hatten, hatten sie auch den Blumenstrauß, der immer auf dem Tisch gestanden hatte, entfernt und generell alle Pflanzen entsorgt. Die Töpfe, genauso wie die Vase standen allerdings immer noch da.

Der größte Unterschied jedoch fand ich in der Küche, denn diese war wirklich leer.

Das ganze Essen hatten sie entfernt. Das wäre mittlerweile sowieso schlecht geworden.

„Wir haben so viel Zeit hier verbracht. Es war eigentlich immer jemand in der Küche gewesen. Wir alle, also meine Eltern, aber auch Manu und ich haben es geliebt zu koche. Regelmäßig hatten wir auch alle gemeinsam das Essen zubereitet. Es war einfach wunderschön.", erzählte ich lächelnd und dennoch unsagbar traurig.

„Was hast du am liebsten gegessen?"

„Meine Mama hatte ein umwerfendes Rezept für eine Linsenlasagne. Es war mein absolutes Lieblingsessen!" Schon bei der Erinnerung zog sich das Wasser in meinem Mund zusammen. „Wobei Rezept etwas übertrieben ist, denn genau da lag das Problem. Sie hatte kein Rezept, sondern hat alles nach Gefühl gemacht. Ich hab ihr so oft zugeguckt, wie sie es machte, aber wenn ich es selbst probiert habe, hat es nie so gut geschmeckt."

„Ist das nicht immer so mit den besten Rezepten?"

„Ein wahrer Fluch!", meinte ich und lachte kurz auf. „Ich bin müde. Können wir zurück in die Pension?"

„Klar!" Er schloss mich in die Arme. „Du hast heute mehr als genug getan. Ich bin so stolz auf dich."

„Machst du die Sicherung vielleicht wieder raus?", fragte ich, als ich mich schon zur Haustür begab. Ich warf einen Blick auf die Treppe, die nach oben führte, doch dafür würde ich wann anders wieder kommen müssen. Das Erdgeschoss reichte für einen Tag.

In unserem Zimmer angekommen war an Schlaf nicht zu denken. Ich war zwar erschöpft und völlig erledigt, aber wirklich müde war ich nicht. Wir schalteten „Friends" ein und lachten über den teilweise schon sehr flachen Humor, den wir trotzdem liebten. Wir hatten die Serie beide schon mehrmals geguckt, aber trotzdem konnte man sie immer und immer wieder schauen.

Ich lag in Robins Armen und nahm mein Handy in die Hand. Ich hatte vorhin gesehen, dass Kim und auch Adrian mir geschrieben hatten, aber hatte mir nicht die Zeit genommen zu antworten.

Beide wollten im Endeffekt nur wissen, wie es mir ging und was ich in den Ferien so tat.

Ich antwortete zuerst Adrian. Das war einfacher, denn er kannte die Wahrheit bereits:

„Hey, mir geht es soweit gut. Nicht wirklich großartig und doch irgendwie schon. Es ist schwer zu erklären, aber das alles hier ist super hart, aber es fühlt sich auch toll an etwas geschafft zu haben und klar kommen viele schmerzhaften Erinnerungen hoch, aber auch sehr viele wunderschöne.

Ich glaube es war die richtige Entscheidung hier hergekommen zu sein, auch wenn ich mir sicher bin, dass ich noch einige Male sagen werde, dass es die bescheuertste Idee überhaupt sei.

Wie geht es denn dir? Noch immer den ganzen Tag am Lernen?"

Viel schwerer war die Nachricht an Kim. Mehrmals tippte ich etwas und löschte es wieder. Ich wollte sie nicht anlügen und doch wollte ich ihr auch nicht die Wahrheit sagen. Noch nicht jetzt. Dafür war ich noch nicht bereit.

„Hey Kim, Das mit dem Wetter ist ja echt blöd, aber wie schön, dass ihr trotzdem eine schöne Zeit habt und noch sind die Ferien ja nicht vorbei. Vielleicht wird es ja noch schöner die nächsten Tage :)

Jack und ich verbringen eigentlich die ganze Zeit zusammen und gehen an verschiedene Orte. Gerade schauen wir allerdings friends.

Genieß die Zweisamkeit mit Oli ;)"

Greatest Love but Greatest FearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt