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Als ich zurück in meinem Zimmer gewesen war, hatten Robin, Kim und mittlerweile auch Oli auf mich gewartet. Sie hatten gerade entschlossen loszuziehen, um mich zu suchen, weil ich so lange weg war. Ich war nämlich nicht gleich wieder zurückgegangen, sondern hatte noch fast eine Stunde im Wald gesessen.

Es sei alles gut, hatte ich ihnen versichert, doch natürlich ließen sie mich nicht mit diesen Worten davonkommen, also hatte ich hinzugefügt, dass ich von zuhause, und es hatte mich einiges an Mühe gekostet dieses Wort auszusprechen, angerufen worden war. Etwas, was eigentlich nie vorkam. Ich hatte behauptet, was an sich auch der Wahrheit entsprach, dass wir eigentlich, wenn dann nur schrieben. Ich erzählte ihnen, dass ich mir Sorgen gemacht hatte, aber dass zuhause alles in Ordnung sei.

Damit waren sie zufrieden gewesen. Und ich, für meinen Teil, war erleichtert gewesen, damit durchgekommen zu sein. Ich hatte befürchtet, dass sie noch mehr nachhaken würden oder dass es ihnen auffallen würde, dass ich in keinem Moment von meiner Familie oder gar Eltern gesprochen hatte, sondern nur von zuhause.

Ich wusste nicht, ob man im Internet Informationen zu dem Unfall fand, wenn man nach meinem Namen suchte. Ich wusste, dass mein damaliger Schwimmtrainer dafür gesorgt hatte, dass die Schwimmerpresse das nicht veröffentlichte. Ich wusste nicht, ob sie es wirklich irgendwo erwähnt hätten, aber es wäre schon denkbar gewesen. Gar nicht unbedingt, weil ich als Ausnahmetalent bekannt gewesen war, sondern viel mehr deshalb, weil der Unfall auf dem Rückweg vom Wettkampf erfolgt war. Damals wurde es nicht veröffentlich, aber ich konnte unmöglich sagen, ob es später irgendwann doch noch sein Weg ins Internet gefunden hatte und wenn ja, ob man es heutzutage noch fand und falls das ebenfalls mit ja zu beantworten war, dann auch nicht, ob man es über meinen Namen fand. Zu guter Letzt wusste ich auch nicht, ob Kim und einer der anderen jemals versucht hatten etwas zu finden.

Doch wahrscheinlich nicht oder hatten zumindest nichts gefunden, denn wenn doch, hätten sie mich wahrscheinlich darauf angesprochen oder nicht?

Wie dem auch sei, ich war froh, dass ich nicht darüber sprechen musste. Irgendwann würde ich ihnen vielleicht alles erzählen, aber ganz sicher nicht jetzt.

Stattdessen waren wir zum Abendessen gegangen. Es war schon recht spät gewesen, aber noch nicht zu spät. Keiner von uns hatte großen Appetit. Wobei es bei ihnen wahrscheinlich an den Nachwirkungen des Alkohols gelegen hatte und bei eher an meinen Gedanken.

Es war der Jahrestag meines Bruders gewesen, an dem ich bisher am wenigsten über ihn nachgedacht hatte. Ich hatte trotzdem ständig an ihn gedacht und in der Trauer gebadet, aber ich hatte auch viel anderes gemacht und über vieles nachgedacht, was nichts damit zu tun hatte. Ich hatte auch Kontakt zu anderen Menschen gehabt. Eine weitere Sache, die ich früher nie getan hatte an diesem Tag.

Seltsam, wie sich alles veränderte. Seltsam, aber... Gut?

Danach verging die Zeit recht ereignislos. Morgens Unterricht, nachmittags meistens im Aufenthaltsraum, in der Bücherei oder die anderen im Training, während ich an den See ging, um nachzudenken und Abends waren wir meisten entweder in unserem Zimmer oder in dem der Jungs.

Das Wetter hatte mit dem Montag nach dem Fest endgültig das Sommerende eingeleitet. Die Sonne ließ sich viel seltener blicken und dafür regnete es viel mehr. Langsam wurden auch die Tage kürzer.

Es war ganz anders im Internat seither. Ich hatte das Gefühl, dass wir plötzlich viel weniger Schüler waren. Das stimmte natürlich nicht, aber es waren nie mehr alle auf einem Fleck gewesen. Man hätte meinen sollen, dass es andersrum war. Dass sich die Leute im Sommer besser verteilen konnten, aber tatsächlich wirkte es nicht so. Im Sommer waren alle, ausnahmslos alle, am Strand gewesen. Jetzt aber waren manche in den beiden Gemeinschaftsräume der Wohnheime, andere blieben in der Mensa sitzen, andere nutzten die Aufenthaltsräume oder sogar die Lernräume hinter der Mensa. Sogar in der Bücherei war mehr los. Sie war alles andere als überlaufen, aber während ich sie früher meistens für mich allein gehabt hatte, waren jetzt eigentlich immer mindestens zwei oder drei andere Schüler anwesend.

Robin hatte mich nun schon mehrmals begleitet, wenn ich neue Bücher suchte und mir auch schon einige Bücher empfohlen. Auch wenn ich es nicht zugeben wollte, hatten sie mir bisher ausnahmslos alle gefallen.

Die Beziehung zwischen uns war noch immer seltsam, zumindest empfand ich sie so. Ich wusste nicht, ob er es auch merkte. Früher hatte ich ihn einfach nur nervig gefunden und das tat ich immer noch, aber ich sah ihn nicht mehr nur als Arsch. Es war immer noch der Gedanke, der am häufigsten in meinem Kopf herumschwebte, wenn ich an ihn dachte, aber ich hatte akzeptiert, dass er scheinbar auch nett sein konnte. Wenn auch nur ab und zu. Zu meinem Glück hatte er sich nicht mehr an unseren Kuss erinnert. Das blieb im Rausch verschwunden. Am liebsten hätte ich es auch vergessen, aber Kim erinnerte mich jedes Mal daran, wenn Robin und ich uns berührten, in dem sie mich angrinste.

Ich wartete nur darauf, dass es einen der Jungs auffallen würde, aber bisher war das nicht geschehen, obwohl Robin und ich uns häufig berührten. Ganz sicher nicht, weil ich es darauf anlegte, sondern weil Robin seine Hände noch immer nicht bei sich lassen konnte.

Kim hatte auch noch mehrmals versucht das Gespräch darauf zu lenken. Sie wollte mich überzeugen, es Robin zu erzählen oder ihm zumindest eine Chance zu geben und sein Flirten zu erwidern. Ich hatte ihr erklärt, dass das niemals passieren würde und auch versucht ihr begreiflich zu machen, dass sein Flirten überhaupt nichts zu bedeuten hatte. Dass er es gar nicht ernst meinte und ich ihm gar keine Chance zu geben brauchte, weil er sie selbst nicht wirklich wollte.

Er wollte mich verführen, das ja, aber das war nicht auf mich begrenzt. Sie hatte mir recht geben müssen, dass er schon immer gerne geflirtet hat und dass es ihm bisher fast nie ernst mit einer gewesen war. 

Greatest Love but Greatest FearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt