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Es war spät. Robin und ich lagen schon seit geraumer Zeit im Zelt, jeder in einem Schlafsack, doch trotzdem lag sein Arm um meinen Körper, während mein Gesicht und meine Hand auf seiner Brust betteten.

Von draußen hörte man das leise Rascheln der Blätter, aber sehen konnte man nichts. Es war stockdunkel.

Mich ließen die Gedanken von vorhin nicht los. Ich genoss die Zeit mit Robin viel mehr als ich es für möglich gehalten hatte. Er gab mir Kraft, Zuversicht, Hoffnung. Er brachte mich selbst an so anstrengenden Tagen, wie die letzten, immer wieder zum Lachen. Ich wollte ihn immer zu nah haben. Sehnte mich nach seiner Nähe, obwohl er nah war. Ich wollte mehr.

Ich hatte mich auch mehrfach erwischt, wie ich seine Lippen angestarrt hatte und ihn küssen wollte. So etwas hatte ich nie gefühlt. Ich hatte zwar, damals als ich im Heim gewesen war, eine, nennen wir es mal, Beziehung gehabt, aber es war anders gewesen. Andererseits, was wenn Robin recht hatte? Was, wenn ich tatsächlich nur vergessen wollte. Wenn es nicht um ihn ging und ich mich auch zu einer anderen Person gerade so hingezogen fühlen würde, weil ich nur die Leere in mir füllen wollte. Sich ein Teil von mir nur einreden wollte, dass ich die Lücke, die meine Familie hinterlassen hatte, wieder gefüllt werden konnte. Was, wenn er recht hatte und ich nicht ihn, sondern nur den Schmerz vergessen wollte.

Damals war es wohl wirklich so gewesen. Aber das, was ich Leon gegenüber gefühlt hatte, war nichts im Vergleich zu dem, was ich jetzt fühlte. Bei Leon hatte ich gar nichts gefühlt. Das war es ja damals. Ich fühlte gar nichts außer Trauer. Deswegen hatte ich mich auf ihn eingelassen. Ich hatte gehofft etwas anderes zu fühlen. Zumindest für einen Moment, aber es hatte nicht funktioniert.

Aber vielleicht war das hier jetzt nur eine andere Version von dem gleichen. Vielleicht wollte ich auch jetzt nur vergessen. Mich in etwas anderes flüchten. Ich war nur mittlerweile an einem anderen Ausgangspunkt und vielleicht war das der Grund, warum ich jetzt dachte, ich würde etwas für Robin fühlen, während ich damals bei Leon nicht mal so tun konnte, als ob.

„Über was grübelst du?", fragte Robin leise.

„Woher... Woher wusstest du, dass ich nicht schlafe? Ich hab mich doch gar nicht bewegt."

„Ich habe es gespürt." Er strich mit seinem Daumen über meine Taille. „Also worüber grübelst du?"

„Über dich.", gestand ich. Wir hatten schließlich eine Abmachung. Keine Lügen und verheimlichen wollte ich ihm auch nichts mehr. Ich hatte das Gefühl ihm zumindest Ehrlichkeit und Offenheit zu schulden. Viel mehr als das, aber mindestens das konnte ich ihm geben.

„Über mich?"

„Über meine Gefühle für dich.", spezifizierte ich.

„Was genau denkst du?"

„Ich frage mich, ob du recht hast. Es fühlt sich echt an, aber ich habe Angst, dass du recht hast und meine Gefühle für dich nicht so echt sind, wie ich es glaube..."

„Darüber musst du dir nicht den Kopf zerbrechen."

„Es ist aber nicht fair... dir gegenüber..."

„Es ist alles gut.", versicherte er. „Wir warten und dann werden wir sehen."

„Und wie?"

„Wenn deine Gefühle echt sind, wirst du sie auch in ein paar Wochen noch haben. Die werden nicht einfach verschwinden, wenn sie echt sind. Wenn sie nicht echt sind, dann werden sie gehen, sobald das alles hinter dir liegt. Wenn sie nur eine Reaktion deines Unterbewusstseins sind, um mit dem Schmerz umzugehen, dann werden sie bald von selbst verschwinden. Wenn sie echt sind, dann bleiben sie bestehen und dann bin ich hier und warte auf dich."

Ich schluckte. „Und wenn sie nicht echt sind?"

„Dann freue ich mich dich als eine Freundin zu haben. Ich mag dich sehr, Elle. Wirklich sehr, aber auch wenn ich dich sehr gerne küssen würde, kann ich damit leben das nie wieder zu tun, wenn ich dich dafür weiterhin in meinem Leben haben kann. Es geht mir nämlich nicht nur um das körperliche, so wie du es mir mal vorgeworfen hast. Es geht mir um dich. Es geht mir um unsere Gespräche und um unser gemeinsames Schweigen. Es geht mir darum, dass ich das Gefühl habe, dass du mich verstehst. Dass ich glücklich bin, sobald du in meiner Nähe bist. Verstehe mich nicht falsch, ich würde dir gerne auf jede Weise nah sein, aber ich kann auch darauf verzichten. Auf dich kann ich nicht verzichten. Darauf nie wieder einen Kuss von dir zu kriegen, ist zwar eine harte Vorstellung, aber das schaffe ich."

„Scheinen ja eh nicht so gut zu sein, wenn du 50% davon vergisst."

Robin schnaubte. „Erinnere mich nicht daran! Ich kann es nicht fassen, dass ich mich nicht an unseren ersten Kuss erinnere!"

„Ich finde es tatsächlich sehr amüsant."

„Moment mal!" Er richtete sich schlagartig auf, was zur Folget hatte, dass ich mich auch aufrichten musste.

Ich hörte, wie er umhertastete, bis er die Taschenlampe fand und sie anschaltete, sodass das Zelt von einem schwachen Licht erhellt wurde.

„Der Kuss, der war damals nach Kimmis Geburtstag."

„Ja, genau."

„Das war da als du den Knutschfleck hattest!"

„Richtig."

„Du wolltest nicht sagen, von wem!"

„Richtig.", wiederholte ich, noch immer sehr amüsiert.

„Der war von mir!"

„Das klang nicht nach einer Frage, aber willst du trotzdem eine Antwort? Die Antwort wäre ja, aber-"

„Das heißt aber, dass Kim davon wusste!", unterbrach er mich. „Sie hat es damals aus die rausbekommen. Sie wollte uns zwar nicht verraten, was du ihr erzählt hast, aber es war offensichtlich, dass sie es wusste!"

„Ja, ich hab es ihr erzählt, aber auch nur... Naja, es war nicht ganz freiwillig, aber immerhin habe ich damals erfahren, dass du Jack bist."

„Aber das heißt ja, dass Kimmi das die ganze Zeit über gewusst hat und mir nicht erzählt hat?! Sie hat mir nicht erzählt, dass wir zwei rumgemacht haben! Dabei wusste sie ganz genau, dass ich- Ich fasse es nicht!"

Ich konnte mir das Lachen nicht verkneifen. Robin wirkte so erschüttert über diese Erkenntnis. „Sie hatte es mir versprochen."

„Ja, aber- Ich mein, klar, aber..." Fassungslos schüttelte er den Kopf. „Kim erzählt mir sonst alles und ausgerechnet das, erzählt sie mir nicht."

„So wie du ihr alles erzählst?", gab ich zu bedenken.

„Ja, genau!"

„Aber du erzählst ihr nicht alles.", widersprach ich. „Du hast ihr nichts von dem Unfall erzählt."

„Ja, weil ich es dir versprochen habe."

„Das hat sie auch."

Er öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. „Du hast ja recht..."

„Das habe ich immer."

„Ey, das ist mein Spruch!" Er ließ sich wieder nach hinten auf den Boden senken. „Aber was war das eben? Du hast da erfahren, dass ich Jack bin? Wer sollte ich denn sonst sein?"

„Robin.", erklärte ich. „Ich habe erst an dem Tag erfahren, dass man dich Jack nennt. Für mich warst du nur Robin, mit Jack konnte ich nichts anfangen."

„Wirklich jetzt? Du hattest nie mitbekommen, dass mich alle Jack nannten?"

„Nein, wirklich nie." Ich zuckte mit den Schultern. „Ich glaub manchmal haben sie den Namen benutzt, aber ich dachte dann, dass es um jemand anderen geht. Wenn du da warst, haben sie eigentlich nie deinen Namen gesagt. Oder ich hab es überhört, keine Ahnung. Auf jeden Fall war ich sehr verwirrt, als Kim über Jack geredet hat. Erst da hab ich es erfahren."

Greatest Love but Greatest FearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt