45

138 19 34
                                    

„Er weckt dich? Inwiefern?"

„Es ist so, dass... Hmm... Wie erklär ich das... Seit einiger Zeit habe ich mich etwas... abgestumpft... gefühlt. Es war als wäre ich in Watte gepackt und alle Gefühle, beziehungsweise die Guten, kamen nur gedämpft zu mir. Ich hatte manchmal sogar das Gefühl, dass ich stärker das fühlte, was ein Charakter in einem Buch fühlte, als was ich selbst fühlte. Es stand schließlich da. Schwarz auf weiß. Meine eigenen Gefühle musste ich selbst erkennen, aber das... das konnte ich nicht. Nicht richtig. Es war alles... überdeckt..." Ich seufzte und zuckte mit den Schultern. Ich wusste wirklich nicht, warum ich das erzählte. Wieso fiel es mir so leicht oder zumindest so viel leichter als mit anderen darüber zu sprechen? War es nur, weil wir uns nicht kannten? War das alles? „Er aber... Er schaffte es irgendwie mich aus dieser Abgestumpftheit zu befreien. Anfangs war das zwar nur mäßig cool... Also das Ding war, dass er mich zwar weckte, aber in mir nur negatives auslöste. Wie gesagt, damals habe ich ihn nur als Arsch gesehen."

„Und dann?"

„Irgendwann habe ich auch seine andere Seite gesehen. Immer nur für einen kurzen Moment, aber ich wusste dann also, dass sie existierte und dass es nicht nur ein Mythos war, was ich davor tatsächlich geglaubt hatte, wenn mir die anderen davon erzählten. Mittlerweile fühl ich mich nicht mehr so taub. Generell nicht, aber mit ihm hat es angefangen..."

„Ich verstehe." Er lächelte mich an. „Er hat den Anfang gemacht."

„Ja, irgendwie schon." Ohne darüber nachzudenken, griff ich mir an den Hals, als würde ich überprüfen wollen, dass mir wirklich nichts die Luft abschnürte. Meinen Schal hatte ich vorher schon nur sehr locker umgelegt, aber entschied mich jetzt ihn doch ganz abzunehmen. Die Kälte spürte ich sowieso nicht. Stattdessen schien mein Körper in Flammen zu stehen. „Generell haben sie mir geholfen, also alle drei. Allein, dass ich hier stehe, wäre vor einem halben Jahr nicht denkbar gewesen." Ein kurzes, trockenes Lachen entfuhr mir. „Eigentlich wäre es selbst vor einer Woche nicht denkbar gewesen. Vor wenigen Tagen noch, hatte ich nicht wirklich geglaubt, dass ich es an diesen Punkt schaffen würde. Ich wollte es schaffen, ich habe mir auch eingeredet, dass ich das schaffen könnte, aber geglaubt? Geglaubt habe ich es nicht..."

„Aber jetzt stehst du hier." Er zeigte hinter sich. „Und hast schon einen riesigen Fortschritt gemacht. Nach so kurzer Zeit!"

„Nach so kurzer Zeit.", wiederholte ich, kratze meinen Mut zusammen und überbrückte mit schnelleren Schritten die letzten Meter zum Endboss draußen. Ich wollte nicht darüber nachdenken. Es einfach tun. Mir wurde schwarz vor Augen. Wie in weiter Ferne spürte ich wie jemand mich fest hielt. So schwach wie ich mich fühlte, wäre ich wohl ansonsten hingefallen. Das Blut rauschte mir durch die Ohren und das Pochen klang so laut, dass ich mir sicher war, dass mindestens Adrian das auch hörte. Ich war nicht einmal sicher, ob ich überhaupt atmete. Es fühlte sich nicht so an, doch vermutlich tat ich es. Nur war mein Kopf zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um das zu registrieren.

Auto. Leichen. Blaulicht. Manu. Wasser. Reifenspuren. Mama. Straße. Wasser. Krankenhaus. Papa. Blut.

Dazu kam noch das Gefühl, dass mir jemand in meinen Bauch griff und in meinen Eingeweiden herumwühlte.

Es war zu viel gewesen. Ich hätte es langsamer angehen sollen. Die letzten Meter auf einmal zu nehmen, war dumm gewesen. Wieso hatte ich das getan?

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich wieder so weit gefasst hatte, dass ich spürte, dass Adrian mit über den Rücken strich. Seine Arme um meinen Körper unterdrückten das Zittern etwas, doch trotzdem bebte ich.

Die Zeit verging. Es fühlte sich an wie Tage, wie Wochen, aber als der Schmerz nachließ und ich meine Umgebung wirklich wahrnahm, bemerkte ich, dass die Sonne hoch am Himmel stand. Es war also erst Mittag. Es waren nur wenige Stunden vergangen.

„Geht es dir besser?", fragte er leise.

Ich nickte. „Danke."

„Du hast es geschafft."

Ich bewegte meinen Kopf, um ihn anschauen und dann einen Blick hinter mich werden zu können. Da war es. Das Becken von dem der Dampf aufstieg. Das Becken, aus welchem der Chlorgeruch stammte, der mir meine Geruchssinneszellen verätzte. „Ich bin hier."

„Du bist hier."

„Danke."

„Hör auf dich bei mir zu bedanken. Das hast du ganz allein geschafft."

„Ich denke nicht, dass ich es ohne dich geschafft hätte." Meine Stimme zitterte ein wenig, aber das war okay. Ich war hier. Ich stand vor diesem Becken und es war erst der 2. Januar. Ich hatte noch mehrere Tage Zeit, hatte aber einen großen Teil des Weges bereits zurückgelegt. Ich fühlte mich hier zwar nicht wohl, aber es war in Ordnung. „Ich- Ich hab was zu essen mitgebracht, wenn du willst... Also ich würde noch ein bisschen hierbleiben, wenn das okay ist, aber ich kann auch gehen, wenn du möchtest. Fühl dich bitte nicht verpflichtet, ich will nicht, dass du-"

„Essen klingt gut.", unterbrach er mich lächelnd. „Und wir bleiben so lange wie du willst. Ich genieße deine Gegenwart."

Stirnrunzelnd musterte ich ihn und versuchte aus seinem Gesicht irgendwas abzulesen, doch ohne Erfolg.

„Was ist?"

„Wieso bist du so nett?", fragte ich geradeheraus. „Warum tust du das hier?"

„Weil ich dir gerne helfen möchte."

„Aber warum?"

„Warum nicht?" Er fuhr sich durch die Haare. „Es gibt so viele Probleme auf der Welt. So viele Sachen, die man angehen müsste, aber es nicht schafft. Man kann sein bestes versuchen und natürlich sollte man niemals denken, dass es egal ist, was man macht, weil eine Einzelperson nichts auswirken kann. Denn so läuft das ja nicht. Wenn jeder sein Bestes tut, dann summiert sich das auf und zusammen können wir was erreichen."

Ich nickte zustimmend.

„Aber es gibt trotzdem so viele Probleme auf der Welt. Ich versuche das zu tun, was in meiner Macht steht, aber ich kann es nicht sehen. Ich bin nur ein winziger Teil einer riesigen kette. Es wird also nicht sichtbar, wenn ich was mache und irgendwie raubt das natürlich die Motivation. Vor allem wenn man sieht, was die Politik für Fehler macht..." Er seufzte. „Deswegen versuche ich andere Sachen anzugehen. Kleinere Angelegenheiten. Da kann ich mich reinhängen und was bewirken. Das wiederum sorgt dafür, dass ich daran erinnert werde, dass man Probleme beheben kann. So geht mein Glaube nicht verloren und ich gebe nicht auf mir eine bessere Welt zu wünschen."

„Das ist... Ich bin beeindruckt."

„Nein, das solltest du echt nicht sein." Lachend schüttelte er den Kopf. „In dem ich dir helfe, hilfst du mir die Hoffnung nicht zu verlieren."

„Trotzdem ist es wirklich krass, wie viel du für mich tust, obwohl du mich kaum kennst."

„Das war der Grund anfangs und der hätte auch gereicht, aber ganz ehrlich?" Er lächelte mich an. „Ich mag dich. Ich genieße die Zeit mit dir und vielleicht ist das etwas schnell, aber ich fühl mich wohl bei dir."

„Ich... mich auch."

„Das klingt nicht überzeugt."

„Doch, schon!" Ich zwang mich zu einem Lächeln, und zwar nicht, weil ich es nicht ernst meinte, sondern weil es mir noch immer nicht vollständig gut ging an diesem Ort. „Es ist nur... ungewohnt. Wie du meintest, es ist schnell... Ach... Es ist krass, wie... wie sehr ich dich schon mag, obwohl ich dich kaum kenne. Ich weiß auch gar nicht, was ich davon halten soll, verstehst du?"

„Ja, klar!" Er legte seine Hand auf meinen Oberarm. „Ich verstehe das nur zu gut!"

Ich reichte ihm eine Box mit einem Nudelsalat und setzt mich auf den Boden. Er tat es mir gleich.

„Ach, aber um es nur kurz klarzustellen, auch wenn das jetzt vielleicht komisch wirkt..." Er grinste mich an. „Wir hatten es ja gestern darüber, dass ich geflirtet habe. Mach dir darüber keinen Kopf. Es ist jetzt nicht so, dass ich es darauf anlege, okay? Ich mag dich, aber in erster Linie würde ich jetzt gerne eine Freundschaft mit dir aufbauen. Falls am Ende etwas anderes daraus wird, dann ist das so, aber ich mag dich wirklich und ich könnte mir gut vorstellen mit dir befreundet zu sein."

„Ich mir auch.", erwiderte ich und lächelte ihn an. Er schien also wirklich einfach nur eine unfassbar gute Person zu sein. Wie hatte ich es verdient gerade ihn zu treffen? 

Greatest Love but Greatest FearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt