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Der September verging ohne besondere Ereignisse. Das Wetter war noch angenehm warm, sodass wir viel Zeit am See verbrachten, aber keiner ging mehr hinein. Dafür war es dann doch zu kalt. Für mich bedeutete das, dass es einfacher wurde. Sie wussten zwar alle, dass ich, unabhängig vom Wetter, nicht ins Wasser gegangen wäre, aber dadurch, dass es momentan auch von niemandem erwartet wurde, wurde es zur Nebensächlichkeit. Es geriet in Vergessenheit. Dieses Problem war ich also vorerst los.

Das hatte auch zur Folge, dass ich einen Teil der Anspannung los wurde, die ich die ganze Zeit in mir getragen hatte, ohne es wirklich zu merken. Das bedeutete aber auch, dass ich die Leere in mir wieder deutlicher spürte. Die Leere, die keiner füllen konnte. Auch Kim und Oli nicht, obwohl ich sie in mein Herz geschlossen hatte. Die waren gute Freunde, selbst wenn ich sie noch nicht lange kannte.

Kim lenkte mich ab, sodass ich weniger in Selbstmitleid versank. Wahrscheinlich war ihr nicht einmal bewusst, was sie für mich tat, aber es half sehr. Sie redete und redete. Dabei war es völlig egal über was. Sie konnte zu allem etwas sagen und das tat sie auch. So war es fast nie ruhig in unserem Zimmer. Vor einem Monat hätte ich diesen Gedanken furchtbar gefunden, aber ich hatte festgestellt, dass es mir ziemlich gut tat. Ich brauchte immer noch Zeit für mich, ich brauchte manchmal die Stille, aber die bekam ich auch. Entweder ich ging allein zum See oder nutzte die Zeit, wenn Kim im Schwimmtraining oder bei Oli war.

Oli war da ganz anders. Er lenkte mich nicht ab, sondern half mir vielmehr weiter zu kommen. Er half mir jedes Mal, wenn es zu einem Punkt kam, an den ich nicht mehr weiterwusste. Half mir aus Situationen heraus, wenn die anderen versuchten etwas aus mir herauszubekommen. Es musste dabei nicht einmal ein direkter Versuch sein. Er erkannte, wenn ich mich unwohl fühlte und lenkte das Thema sofort in eine andere Richtung, sodass ich gar nicht erst in eine unangenehme Situation kam. Anfangs dachte ich, es wäre nur Zufall, aber als es immer wieder passierte, entdeckte ich den überprüfenden und mitfühlenden Blick, den er mir dabei zuwarf. Er wollte nicht, dass ich etwas erzählen musste, dass ich nicht wollte. Nach unserem Gespräch über Elisa hatte ich mir Sorgen gemacht, er könne verletzt sein, weil ich meine Geschichte nicht mit ihm teilte, aber mittlerweile war ich mir sicher, dass er es gar nicht wollte. Das hieß, er wollte die Geschichte erfahren, aber nicht zu dem Preis. Er wollte, dass ich es ihnen erzählte, aber erst wenn ich soweit war.

Doch egal wie sehr ich die beiden schätze, es änderte nichts an der Leere in meinem Inneren. Vielleicht war Leere auch der falsche Begriff. Es war mehr eine Art Taubheit. Ich konnte Glück empfinden, Freude und Zuneigung, aber es fühlte sich alles dumpf an. Als wären meine Gefühle in Watte umhüllt und würden einfach nicht in voller Stärke zu mir durchdringen. So war es auch die letzten Jahre gewesen, aber in den vergangenen Wochen hatte es sich ein wenig verbessert. Zumindest hatte ich das gedacht, aber so war es wohl nicht. Jetzt erkannte ich, dass es nie besser gewesen war. Die Taubheit hatte nicht nachgelassen. Denn manche Gefühle hatte ich seit dem Unfall immer in voller Stärke gespürt, wenn nicht sogar noch intensiver. Gefühle wie Trauer und Schmerz, Schuld und Wut. Durch die ständige Anspannung in den letzten Wochen hatte ich die Taubheit nicht so sehr gespürt, weil sie nicht die Oberhand hatten, aber jetzt, wo die Anspannung nicht mehr mein ständiger Begleiter war, brach sie wieder durch.

Es schien nur zwei Situationen zu geben, in denen ich sie durchdringen konnte. Die erste war die gleiche, die es schon immer gab. Wenn meine Gedanken zu meiner Familie fuhren. Wenn ich die Trauer meinen Körper überfluten ließ. Das geschah noch immer jeden Tag, aber ich hatte gelernt diese Zeit zu reduzieren. Das musste ich, um nach Vorne zu schauen. Um mein Versprechen wahr werden zu lassen. Dass ich das schaffte, hatte ich nur Kim zu verdanken.

Die zweite Situation war neu. Zumindest im Vergleich zu der Zeit bevor ich im Internat war. Diese Situation wurden immer von einer bestimmten Person ausgelöst. Es war unfassbar, wie wütend er mich machte. Ich konnte mir wirklich nicht erklären, wie Robin das schaffte. Das seltsame war, dass ich mich manchmal danach sehnte. Es war idiotisch. Wut war kein schönes Gefühl und ich wünschte, er wäre nicht so ein Mistkerl, aber zur selben Zeit waren das eben die Momente, in denen ich das Gefühl hatte wieder zu leben. Er weckte mich auf, holte mich zurück, so wie es sonst kein Lebender konnte. Ich hasste die Taubheit in mir und deshalb sehnte ich mich nach diesem Gefühl, auch wenn ich Robin zur selben Zeit verabscheute, weil er eben dieses Gefühl in mir auslöste.

Greatest Love but Greatest FearWo Geschichten leben. Entdecke jetzt