Bri ließ sofort die Waffe sinken. Sie waren allein. Das erste Mal waren Bri und Henry allein.
„Henry", sagte Bri mit zittriger Stimme. Jetzt hätte sie es erklären können. Jetzt hätte sie sich rechtfertigen können. Doch es gab weder etwas zu erklären noch zu rechtfertigen.
„Bist du verletzt?", fragte er, ohne sie anzusehen, und füllte seine Pistole mit neuer Munition.
„Nein, aber Sara." Bris Kehle fühlte sich an wie zugeschnürt. „Sie ist unten mit Felix, das ... wird schon. Die anderen sind alle im Nebenhaus." Henry nickte und drehte sich zur Treppe um.
„Henry?" Sie schluckte schwer, während er sich langsam zu ihr umdrehte. Jetzt sah er sie an. „Ich wollte das nicht", war alles, was sie herausbrachte.
Henry betrachtete ihr Gesicht. Es war Bri unmöglich zu sagen, was gerade in ihm vorging. Irgendwann schüttelte er kaum merklich den Kopf. „Nicht einmal jetzt kannst du mit den Lügen aufhören?", fragte er leise.
Bris Unterlippe begann zu zittern. „Es ist keine Lüge", erwiderte sie mit brüchiger Stimme.
Er zuckte die Schultern. „Schwierig zu beurteilen, findest du nicht?"
Bri trat verzweifelt auf ihn zu. „Alles, was wir durchgemacht haben." Sie schluckte schwer – das Sprechen verlangte ihr alles ab, was sie noch an Kräften besaß. „Spielt das für dich gar keine Rolle mehr?"
„So wie es für dich anscheinend keine Rolle spielte", sagte er.
„Das ..." Bri biss die Zähne zusammen. „Das kann es aber nicht gewesen sein!" Er fuhr sich durchs Haar und wollte gehen, Bri ging zu ihm und wollte ihn festhalten. Doch sie traute sich nicht, ihn anzufassen. Sie ließ ihre Hände sinken und schluckte schwer. „Sobald ich dir die Zahlen gesagt habe, wirst du mich also einfach so umbringen?"
„Einfach so?" Henry sah zu ihr hinab. „Du hattest deine Chance, Briseis Bandowski", sagte er leise. „Ich hätte dir helfen können." Bri trat langsam einen Schritt zurück. Er folgte ihr. „Ja, ich werde dich umbringen. Mein nächster Mord wird wie versprochen deinetwegen sein", fuhr er wütend, aber immer noch leise fort. „Aber mit Sicherheit wird das Ganze nicht einfach so sein."
„Du hättest das gleiche getan", erwiderte Bri. Langsam wurde sie selbst wütend. „Willst du wissen, warum ich dich verraten musste?", fragte sie. „Die Piratenjäger haben mich vor die Wahl gestellt, dich auszuliefern oder das Arbeitslager bei den Wasserwerken zu –"
Henry starrte sie an. Dann wurde sein Gesicht, wenn es denn irgendwie möglich war, noch hasserfüllter. „Wieso tust du das?", zischte er.
„Was denn?", rief sie verzweifelt.
„Die Menschen in dem Arbeitslager waren vier Tage vor meiner Entführung tot!", rief er zurück.
„Das wusste ich aber nicht!"
„Als ob!" Henry lachte – aber es klang alles andere als fröhlich. „Mein Gott, wen willst du eigentlich verarschen? Deine Schwestern sind Helen und Mia Bandowski, natürlich wusstest du das!"
„Sie haben mich – belogen, und ..." Bri schüttelte mit zugeschnürter Kehle den Kopf. „Wenn du bereits wusstest, dass die Schulz' tot waren, warum hast du dann nichts gesagt?"
„Tja, wir hatten damals noch keine Ahnung davon – aber du willst mir doch nicht erzählen, dass du davon nichts wusstest."
„Genauso ist es aber!", rechtfertigte sich Bri.
„Hör auf damit", sagte Henry müde. „Aber klar, vermutlich ist es meine Schuld, dass ich wirklich so dumm war, einer Bandowski zu glauben. Noch dazu einer, die ihr ganzes Leben lang wegen ihres Namens gelogen hat."
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16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im Meer
Teen FictionDer zweite Teil der 16521-Reihe.