Das blaue Buch

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Bri spürte die Kälte des Wassers kaum. Es wurde alles von der Panik übertönt, die sich in ihr breitmachte, als sie gänzlich vom Wasser umspült wurde. Ihre Lungen schrien nach Luft, sie bemerkte nicht einmal, wie sie den Umschlag losließ. Da stieß ihr Kopf plötzlich an die Wand – die jetzt, aufgrund neuester Ausrichtungen des Schiffes, die Decke war – doch Bri bekam plötzlich Luft. Sie saugte sie panisch ein.

„Henry!", schrie sie und sah sich in der Dunkelheit um. „Henry!"

Es kam keine Antwort. Auf einmal hielt die Decke über ihr dem Gewicht des Schiffes nicht mehr Stand und bog sich mit lauten Kreischen auf sie zu. Bri hob ihre Hände über den Kopf. Kurz über ihr kam die Stahldecke zum Stillstand und nur noch Bris lauter Atem war zu hören. „Henry!"

Gerade, als sie darüber nachdachte, los zu schwimmen, tauchte er neben ihr auf. „Verdammt. Alles in Ordnung bei dir?", hustete er.

Sie schüttelte den Kopf. Henry knipste eine Taschenlampe an. Die Luftlücke, die sie gefunden hatten, war nur knapp einen Meter hoch, das Schiff total verbogen.

„Bist du verletzt?", fragte Henry und drehte ihr Gesicht in seinen Händen.

„Henry, ich habe den Umschlag fallen lassen", hustete Bri.

Er holte tief Luft und nickte anschließend. „Warte kurz."

„Nein, Henry –!"

Doch er war schon abgetaucht und Bri sah ihn mit der Taschenlampe in der Hand in der Tiefe verschwinden. Nach einer Minute begann sie, sich ernsthaft Sorgen zu machen.

„Oh mein Gott, jetzt habe ich Henry Fitz–Becket doch noch umgebracht", flüsterte sie.

„Mach dich nicht lächerlich."

Bri fuhr herum und Henry knipste das Licht wieder an. „Was ist bloß los mit dir?", fuhr sie ihn an. „Warum machst du das Licht aus?"

Er grinste und hob den braunen Umschlag mit ihrem Namen. „Du solltest mir lieber danken, Briseis Bandowski."

Sie holte tief Luft und schlang die Arme um ihn. „Ich bin dankbar, sehr dankbar, aber noch dankbarer, dass du nicht ertrunken bist!"

Er lachte gerührt. „Ganz ruhig bleiben, okay?" Henry zog sie an der schrägen Wand soweit es ging aus dem Wasser. „Du wirst sehen, die anderen haben es rausgeschafft und werden uns finden."

Bri nickte langsam. Sie konnte es nur hoffen. „Und unten geht's nicht raus?"

„Nein, die Fenster liegen auf dem Grund auf", sagte Henry und erschauderte vor Kälte.

„Wir erfrieren, Henry", sagte Bri und umklammerte den Briefumschlag.

Henry rutschte näher zu ihr hin und legte die Arme um sie. „Das dauert ein paar Stunden."

Und so vergingen diese Stunden. Die Hippodameia schwieg noch lange nicht. Das Knarren des Stahls war nach wie vor gegenwärtig und hallte auf der Wasseroberfläche. Und es war so eiskalt. Nach wenigen Stunden konnten sie sich kaum noch bewegen. Jeder Atemzug war spürbar, ihre Gesichter wurden weißer, ihre Lippen blauer.

„Henry." Bris Stimme war nur noch ein Fisteln.

„Hm?"

„Ich muss dir was sagen."

„Okay."

„Wegen des Kusses."

Er öffnete die Augen.

„Ich habe gelogen", krächzte Bri. „Natürlich wollte ich dich küssen. Du warst mein bester Freund – eine Zeit lang mein einziger – und ... du bist einer der großartigsten Menschen, die ich kenne, und damals hat es sich so angefühlt, als wäre es die letzte Möglichkeit, dich jemals zu ... Also ... es war nicht für die Mission." Sie atmete zittrig aus.

16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt