Ihr letzter Wunsch

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Bri verließ die Wohnung und erklomm die Stufen weiter nach oben. Ihre Lungen schmerzten bei jedem Atemzug.

Sie kam an die Tür zum Dach und stieß sie auf. Der Regen prasselte laut auf den Beton. Die Stadt Uniform war durch den dichten Regen kaum zu erkennen, so mächtig war dieser Regensturz.

Bri wurde beim Anblick des Regens ganz ruhig.

Sie ging langsam auf das Ende des überdachten Teils zu und setzte sich nur wenige Zentimeter von der Regenwand entfernt auf den Boden.

Und genau hier, in diesem Augenblick, als Bri einfach nur dasaß und den uralten Wodka trank, ging ihr auf, dass sie tatsächlich das Opfer einer schrecklichen Lüge geworden war. Vielleicht waren ihr Vater und Benjamin Paas nie im Paradies gewesen. Vielleicht, nein wahrscheinlich existierte Supra gar nicht. Vielleicht war Anna umsonst gestorben. Bri wünschte sich mehr und mehr, die Piraten hätten damals die richtige Schwester mitgenommen und umgebracht.

Sie zog mit klammen Fingern ihre Pistole hervor und betrachtete sie. Sie holte schluchzend Luft, summte ihre Melodie.

„Falls du vorhast, dir eine Kugel in den Kopf zu jagen ... wir haben die Munition rausgenommen", sagte plötzlich jemand leise. Bri drehte sich nicht um. Schritte kamen auf sie zu, bis Henry sich mit etwas Abstand zu ihr setzte. „Es tut mir leid, dass ich dich hierhergebracht habe", sagte er irgendwann.

Bri lauschte dem Regen, der auf das Wellblechdach über ihnen prasselte. Sie atmete tief durch. „Bitte geh einfach", hauchte sie.

Er sah sie kurz an. „Dieses Gebäude ist ziemlich hoch und du bist betrunken. Also nein."

„Was interessiert es dich denn?", entgegnete Bri. „Dann hast du doch endlich, was du wolltest."

„Klar", schnaubte Henry. „Weil ich dran schuld sein will, dass sich das Zahlenmädchen den Kopf wegschießt oder hundert Stockwerke in die Tiefe springt." Er schüttelte den Kopf. „Wenn du dich jetzt umbringst, Briseis", sagte er und beugte sich ein Stück vor, „bin ich der Schuldige. Aber du wirst diese Geschichte nicht umdrehen, glaub mir." Er fuhr sich unschlüssig durchs Haar. „Verdammt, warum musstest du es auch tun?", fuhr es aus ihm heraus. „Du hättest mit mir reden können. Ich hätte dir helfen können!"

Bri biss die Zähne zusammen. „Weißt du, was mich daran am meisten ankotzt?"

„Was mag es wohl sein ..."

„Du hast mich doch genauso angelogen wie andersrum", sagte Bri. „Und trotzdem spielst du dich schon wieder auf wie irgendein ... tragischer Held oder sowas, der nie im Leben auch nur irgendetwas Falsches tun würde." Sie schnaubte. „Also alles, wie es sein soll. Der großartige Henry Fitz–Becket ... und das furchtbare Miststück Briseis Bandowski."

Er nickte langsam. „Doch, ich habe einen Fehler gemacht, indem ich dich entführen wollte. Das gebe ich zu. Aber komm schon, ich kannte dich nicht. Für mich warst du einfach nur 'ne Piratenjägern, die zufällig mit dem Mann verwandt war, der vor Jahren Supra gefunden hatte. Ich konnte doch nicht wissen, dass wir ..." Henry suchte nach den richtigen Worten. „... dass wir uns anfreunden würden, dass du mir das Leben retten würdest ... Geschweige denn, dass wir ..."

Er nahm Bri die Flasche aus den Händen und trank ebenfalls. Dann schwiegen sie.

Bri zupfte an ihrem Schnürsenkel. „Ich will einfach nur weg von hier", flüsterte sie irgendwann.

„Dann bring uns hier weg." Henry sah sie eindringlich an. „Ich glaube nach wie vor, dass du diejenige bist, die die Zahlen kennt. Und sobald wir das Rätsel gelöst haben ... bringst du uns alle hier weg."

„Und dann?", fragte Bri ausdruckslos.

Henry stand auf und zog Bri am Arm mit hoch. Er sah sie an. „Dann ... werde ich dir eigenhändig eine geladene Waffe in die Hand drücken, falls das dein Wunsch ist." Henry schloss die Augen, als könnte er selbst nicht glauben, was er da gerade gesagt hatte. „Ich weiß, es geht hier irgendwie auch um mich, also kann ich es ganz gut verstehen, aber ... sich wegen all dem umzubringen ist echt 'ne beschissene Idee, Bri."

Bri ließ ihren Kopf an seine Brust sinken und schloss die Augen. Reglos standen sie da, minutenlang, bis der Regen langsam aufhörte und alles in eine sanfte Stille getaucht wurde. „Ich weiß nicht, was ich tun soll", wisperte Bri schließlich.

Henry ging einen Schritt zurück. „Ich kann dir nicht helfen. Wir sind Feinde. Jetzt mehr denn je." Er schluckte schwer. „Bilde dir bloß nichts ein, Briseis. Ich hasse dich für das, was du mir und meiner Familie angetan hast. Und ich werde nicht einschreiten, wenn sie dich dafür zur Rechenschaft ziehen wollen. Seien wir ehrlich, du hast es verdient."

Plötzlich knallten Schüsse durch die Luft.

„Was war das?", fragten Henry und Bri gleichzeitig.

Sie rannten über das Dach bis zur Kante und sahen hinunter. Schwarzgekleidete Menschen marschierten durch die regennassen Straße. Die wenigen Städter hasteten umgehend in ihre Häuser und zogen die Vorhänge zu.

„Es sind keine Piratenjäger", sagte Bri und sah Henry von der Seite an. „Eure Piraten?"

Henry schüttelte langsam den Kopf.

„Sie kommen in dieses Haus", stellte Bri fest. „Wer ist das?"

„Südpiraten." Henry drehte sich zu ihr um. „Wir müssen weg hier."

„Charlie und die anderen –"

„Ich hole sie", sagte Henry und rannte zur Tür. „Du wartest hier."

„Nein!"

„Doch!"

Unschlüssig blieb Bri stehen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und rannte zur anderen Seite des Daches. Das nächste Haus war gut vier Meter entfernt und etwa fünf weitere Meter unter ihr – springen war vielleicht möglich. Bri hörte Rufe aus dem Treppenhaus und wirbelte herum. Die Tür zum Dach wurde aufgestoßen und ein Dutzend schwarzgekleideter Männer stürmte das Dach, die Gewehre im Anschlag.

„Hände hoch!", brüllten sie alle durcheinander.

Bri hob langsam die Hände und ging einen Schritt vorwärts.

„Leg dich mit dem Bauch auf den Boden, die Hände hinter den Kopf!", rief der Mann, der ihr am nächsten war. „Auf den Boden, Mädchen! Los!"

Bri beugte ganz, ganz langsam die Knie. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um, rannte auf die Kante zu und sprang.

Sie flog – eine lange Zeit, bis sie unsanft auf dem Dach des Nachbarhauses landete und sich ungelenk darüber abrollte. Ohne sich umzudrehen rappelte sie sich stöhnend auf und kletterte die Hauswand hinab. Über ihr schrien die Fremden weitere Anweisungen, einen Satz hörte Bri ganz deutlich: „Nicht schießen!"

Nach einer gefühlten Ewigkeit setzten ihre Füße auf der kleinen Gasse zwischen den beiden Hochhäusern auf. Bris Arme zitterten vor Anstrengung, sie waren verätzt von dem Regenwasser, das noch an den Steinen geklebt hatte. Doch sie hatte keine Zeit, zu verschnaufen. Sie hörte auf der Hauptstraße neben sich Schüsse.

Mit weichen Knien hastete sie in die andere Richtung der Straße. Dann bog sie um die Ecke und prallte mit einer Person zusammen, so unsanft, dass beide zu Boden fielen. „Felix", keuchte Bri erleichtert. „Wo sind –"

Um sie herum erschienen dieschwarzgekleideten Piraten und richteten ihre Gewehrläufe auf sie. Das letzte,was Briseis sah, war ein Stiefel, der auf ihr Gesicht zuraste.

16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt