Die Melodie

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„Briseis?"

„Henry?", fragte Bri leise, als sein Gesicht über ihr erschien.

„Nein, nicht Henry."

Sie setzte sich schweratmend auf und lehnte sich gegen die Wand. Connies Kopf lag auf Bris Schoß, ihr Mund murmelte stumme Worte.

„Robin", sagte Bri kaum hörbar. „Bitte lass mich schlafen. Bitte ... lass mich ..."

Robin sah nervös zur Tür. „Ich habe versucht, Lukas zu überzeugen. Aber ... keine Chance. Er glaubt, du knickst bald ein. Hier." Er zog ein Stück Brot aus seiner Tasche und Bri griff sofort danach. Es kostete sie Kraft, die sie eigentlich nicht mehr hatte, dass Brot in zwei Teile zu reißen und der abwesenden Connie in den Mund zu schieben, die es langsam kaute, dabei aber weiter murmelte.

„Iss langsamer, du hast das letzte Mal vor zwei Tagen Suppe gehabt", sagte Robin zu Bri, als sie sich das ganze Brot auf einmal in den Mund schob.

„Ich hatte keine Suppe", sagte Bri mit vollem Mund.

„Du erleidest Gedächtnisverlust", sagte er.

„Meine Beine tun so weh", stöhnte Bri. „Alles tut weh."

„Hör zu, Briseis", sagte Robin eindringlich. „Du musst aufgeben. Du wirst einen Herzinfarkt bekommen. Lukas macht sich etwas vor", sagte er verzweifelt. „Er denkt, wenn es dazu kommt, könnten dich die Ärzte kurzerhand reanimieren. Aber ..." Er schloss die Augen. „Die Leute halten höchstens elf Tage durch. Einer hat es zwölf geschafft, bis sein Herz nachgegeben hat."

„Wie lange bin ich jetzt wach?", fragte Bri unruhig.

Robin rieb sich die Stirn. „Du hast seit acht Tagen nicht mehr geschlafen."

Bri schüttelte den Kopf. „Das kann nicht sein, ich bin noch nicht so lange hier."

„Doch. Dein Gedächtnis hat vielleicht ausgesetzt ..."

Bri war einen Moment stolz, dass sie es so lange durchgehalten hatte. Doch der Stolz verflog schnell. „Connie ist seit zehn Tagen wach." Bri legte eine Hand auf Connies Kopf. „Es passiert wirklich, oder?", wisperte sie. „Das, vor dem mich immer alle beschützen wollten." Bri sah ihn an. „Robin, bitte! Bitte, tu etwas!"

Robin fuhr sich über die Augen. „Ich habe es versucht. Ich habe alles versucht, Briseis ... Gib einfach auf. Sag ihnen die Koordinaten."

Bris Augen füllten sich mit Tränen. „Wie denn?", flüsterte sie. „Robin, ich kenne sie nicht."

Robin sah sie voll Kummer an. „Wirklich nicht?"

Bri schüttelte den Kopf. „Wirklich nicht."

Robin schluckte schwer. Dann zwang er sich ein gequältes Lächeln aufs Gesicht. „Als hätte man mir zum zweiten Mal gesagt, dass es keine Taufengel gibt ..." Er setzte sich zu ihr an die Wand.

Bri fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen. „Du bist nicht der Einzige, der enttäuscht ist", brachte sie hervor. Hätte ihr vor zwei Wochen jemand gesagt, dass sie mal vollkommen ungeniert vor Robin Fitz–Becket weinen würde, hätte sie nur abfällig gelacht – jetzt lief ihr ein Strom von Tränen über die Wangen und es war ihr vollkommen gleich. Die Nässe war sogar irgendwie angenehm.

„Mum hat uns dreien immer das Nachtlied der fünf Richtungen erzählt", sagte Robin leise. „Und von dir ... von Briseis Bandowski. Dem Mädchen, das uns alle retten würde."

Bri schnaubte. „Stattdessen sind meine Leute für Max' Taubheit verantwortlich. Dafür, dass du von deiner Familie getrennt bist. Und ich bin für Henrys ... für alles verantwortlich, was ihm zugestoßen ist." Bri vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und schluchzte. „Ich habe noch nie irgendjemanden gerettet! Meine Schwester ... Tom und Sophie, Maria, Selma und Fritz ... Alle haben ihre Hoffnung auf mich gesetzt, aber trotzdem –"

16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt