Romys Grüße

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Der Morgen graute in der Richtung Septentrio, die Menschen wurden aus ihrem Schlaf gerissen und keuchten auf, ihre Herzen pochten, ihre Köpfe standen für den Bruchteil einer Sekunde in Flammen. So schnell, wie er gekommen war, war der Moment vorüber. Was blieb, war die seltsame Klarheit. Eine unheimliche Wirklichkeit, das Einbrechen von Erinnerungen, die die Menschen nicht hätten haben dürfen, Gedanken, die sie nicht verstanden.

Ein Mann stand in Alpha am Fenster. Er sah den Sinn seines Amtes nicht mehr, seit sechs Jahren war er für die Organisation und das Aussenden der Ernteschiffe der Stadt zuständig. Er begann, zu weinen, konnte nicht mehr aufhören, seine Kinder wurden wach, seine Frau, niemand konnte ihn beruhigen.

Eine Frau fuhr aus dem Schlaf hoch und begann zu schreien. Ihr Mann war schon vor langer Zeit bei einem Bombenangriff der Nordpiraten gestorben, doch ihre fünf Kinder erwachten umgehend und wollten ihrer Mutter helfen – doch diese schrie und schrie bloß. Sie habe ihr ältestes Kind umgebracht, sie habe ihrem ungetauften Kind an seinem zweiten Geburtstag die Kehle durchgeschnitten, als ihr Zuhause von den Nordpiraten belagert worden war. Sie habe ihr ältestes Kind umgebracht.

Ein Waisenmädchen, das durch die Trümmer Novembers kletterte, traf es wie ein Schlag: Es vermisste seine Eltern. So schmerzlich, so heftig, dass es stehenblieb und in den Himmel hinaufblickte. Vor einem Jahr erst waren ihre Eltern mit Ernteschiffen weggeschickt worden. Doch wohin? Sie wusste es nicht. Wo waren sie, waren sie am Leben? Warum hatten sie sie verlassen?

Ein junger Mann trug ein Kind durch die Wälder, er blieb auf einmal stehen, fragte sich, was er hier tat. Seine Frau, seine beste Freundin, war bei der Geburt gestorben. Er war allein, allein mit seinem Sohn, wollte ihn gerade zur Taufstation bringen, doch nun stand er vor der großen Steinplattform und wusste nicht, weshalb er das tun sollte. Weshalb sein Neugeborenes allein zurücklassen, ungewiss, was mit ihm geschehen würde? Verwirrt schüttelte der Mann den Kopf, sah auf das schlafende Kind in seinen Armen. Es war alles, was ihm von seiner Geliebten geblieben war. Er schluckte den Kloß in seiner Kehle hinunter und küsste dem Säugling die Stirn. Dann machte er kehrt und ging den weiten Weg zurück nach Hause.

Wäre nicht genau in diesem Augenblick die Decke über ihnen zusammengebrochen und hätte das kalte Meerwasser eingelassen, wären Bri, Henry und Tom in der Explosion zu Asche zerfallen. Feuer traf auf Wasser, alles um sie herum zerbarst – Bri blieb nur noch, nach Toms und Henrys Armen zu greifen, als die Welt um sie zusammenfiel.

Bri war gefangen im Lärm, das Wasser zog sie mit voller Macht von den anderen weg – sie schrie, wollte Henrys ausgestreckte Finger erreichen, doch der Sog war zu stark. Bris Lungen ächzten nach Luft, sie wusste nicht, wo sie war. Alles war in ein Licht getaucht, das mit jeder Sekunde heller und heller zu werden schien. Bri biss die Zähne zusammen, strampelte wie von Sinnen, trat Stahlplatten aus dem Weg und begann, zu schwimmen – nach oben, nach unten, sie wusste es nicht.

Mit einem erstickten Schrei war sie plötzlich oben an der Wasseroberfläche. Doch bevor sie Luft holen oder ihre Orientierung zurückgewinnen konnte, schlug eine monströse Welle über ihr zusammen und Bri wurde erneut in die Tiefen hinabgedrückt. Als sie das nächste Mal auftauchte, blickte sie direkt auf die alte Bohrinsel, die vor ihr aufragte.

Die Zentrale stand in Flammen. Die Gewitternacht wurde von einer brennenden Stadt im Meer erhellt. Ein Gebäude nach dem anderen explodierte mit einem mörderischen Knall, um dann wie in Zeitlupe in die tosenden Fluten zu stürzen. Die Flammen, die aus Charlies Bombe gekrochen waren, verschonten nichts: Keine Antenne, keine Satellitenschüssel, keinen Funkturm. Als alles von der brüllenden Flammenwand eingeschlossen war, explodierte diese zum gefühlt zehnten Mal.

Die Insel fiel mit einem Kreischen in sich zusammen, versank in einer Masse aus Rauch, Regen und Meer.

„Henry!", schrie Bri und drehte sich in dem Trümmerhaufen um die eigene Achse. „Henry!"

16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt