Abends, will ich schlafen geh'n

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Briseis atmete laut und ungleichmäßig, als die Piraten ihre Fesseln lösten und sie auf die Füße zogen. Sie zerrten sie die Treppe hinauf, Robin Fitz–Becket folgte ihnen. Bri bekam kaum mit, wo sie hingingen. Sie wusste nur, dass sie versagt hatte.

Hinter der Treppe gelangten sie in ein Gebäude ohne Fenster. Die Flure wurden von kaltem Neonlicht erhellt. Nach gut zehn Minuten kamen sie an eine Tür. Zwei Wachleute öffneten mit einem Nicken die Türen und Bri wurde in einen kleinen Raum gestoßen.

Bri blieb stehen und starrte die Zelle an.

„Gib mir deine Jacke", sagte Robin hinter ihr.

Bri drehte sich nicht um. „Warum tust du das, Robin?", hauchte sie. Sie sah ihn nun doch an.

Er fuhr sich durch die Haare. Eine Geste, die sie schmerzlich an Henry erinnerte. „Briseis, gib mir deine Jacke."

Als Bri sich noch immer nicht bewegte, drehte er sie um und zog ihr die Jacke von den Armen. Ein grauenvoller Schmerz durchzuckte ihr gebrochenes Handgelenk, doch sie biss die Zähne zusammen, um sich nichts anmerken zu lassen. „Gib so schnell wie möglich auf", flüsterte Robin verzweifelt in ihr Ohr.

Sie drehte sich um und dachte darüber nach, ihm ins Gesicht zu spucken. Doch sie tat es nicht.

Robin ging zur Tür, stützte seine Hände gegen den Türrahmen und schloss die Augen. „Briseis. Bitte, gib so schnell wie möglich auf." Mit diesen Worten verließ er den Raum. Die Piraten zogen die schwere Tür zu, das Klappern eines Schlüsselbundes war zu hören und Bri war ganz allein in dem kalten Raum. Nichts war zu hören. Sie sank an der Wand hinab, legte ihren Kopf auf die Knie und zitterte.

Sie schlief in dieser Nacht nicht. Ihr Handgelenk war geschwollen und tat bei jeder Bewegung weh. Die Erinnerung, wie Felix langsam ertrank, hielt Bri wach. Ihre Sorge um Charlie, um Henry ... der Gedanke an seine letzten Worte an sie ...

Ein großer roter Knopf leuchtete neben der Tür, er blinkte in unregelmäßigen Abständen. Hinter einer kleineren Tür befand sich ein winziges Badezimmer mit einer Toilette und einem Waschbecken. Der Raum hatte weder Fenster noch Möbel, nur eine kalte Glühbirne, die die ganze Nacht durchbrannte. Zumindest glaubte Bri, dass es Nacht war.

Am vermeintlichen Morgen war sie zwar müde, doch sie konnte noch immer nicht schlafen. Wann immer sie die Augen schloss, sah sie Felix' Gesicht. Dann Henry und dann seine Freunde. Felix, ein Mitglied dieser seltsamen Familie, war tot, weil Bri sich nicht erinnerte. Weil sie versagt hatte, weil sie schlichtweg nicht gut genug ein paar Zahlen runter lügen konnte.

Nun würde Henry ihr nie verzeihen können.

Es war so kalt. So aussichtslos. Bri war gefangen von den Südpiraten. Ohne auch nur einen Schritt näher an den Koordinaten zu sein, die sie nach Supra führten.

Bri vermutete, dass es Nachmittag war, als plötzlich ohrenbetäubend laute Musik in dem Raum erklang. Das Zerreißen der plötzlichen Stille ließ sie heftig zusammenzucken, ihr Herz pochte laut und schnell. Die Lautsprecher oben in der Ecke hatte Bri bis dahin gar nicht richtig bemerkt.

Es waren Lieder der vorsintflutlichen Zeit. Fröhliche, lustige, gutgelaunte Musik, die Bri schon nach wenigen Stunden um den Verstand brachte. Je später es wurde, desto müder wurde sie. Doch schlafen war unmöglich. Die Musik war zu laut.

Irgendwann stand Bri auf, ihr geschwollenes Handgelenk an sich gepresst. Sie schlug mit ihrer rechten Hand gegen die Tür und rief: „Hey! Könnte bitte irgendwer die Musik ausmachen? Hallo?"

Die Musik spielte fort. Nach weiteren Stunden warf Bri ihre Schuhe mit voller Wucht gegen den Lautsprecher, immer und immer wieder, in der Hoffnung, das Teufelsding würde endlich kaputtgehen.

16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt