Der Mann in der Wand

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Die Tür fiel mit einem lauten Knallen zu, dann war es still.

Es war wohl das komfortabelste Verlies, in dem Bri je gelandet war: Sie und Henry standen in einem prunkvoll eingerichteten Raum mit vergoldeten Möbeln, einem seidenbezogenen Bett und nicht weniger als vier kristallenen Kronleuchtern, die von der Decke hingen. Die Wände waren mit komplizierten Mustern aus Stuck verziert, eine große Fensterwand zeigte einen atemberaubenden Ausblick auf die Hauptstadt Auroras.

Bri konnte sich als erste aus der Starrte lösen und lief schnellen Schrittes zu den Flügeltüren zurück, durch welche die aurorischen Soldaten verschwunden waren. Sie rüttelte an den goldenen Türklinken, nichts regte sich. Frustriert trat sie dagegen, dann ging sie an Henry vorbei zu dem großen Fenster. Doch auch dieses ließ sich nicht öffnen. Bri stieß einen wütenden Laut aus und fuhr sich durch die Haare.

„Bri", sagte Henry leise, doch sie hörte ihn nicht und ging wieder zur Tür zurück, um wie von Sinnen dagegen zu hämmern.

„Das könnt ihr nicht tun!", rief sie. „Lasst uns hier raus, ihr verfluchten Miststücke!"

„Brisi ..."

„Nein, Henry." Bri drehte sich zu ihm um. „Verstehst du nicht, was hier passiert?", keuchte sie.

Henry schwieg. Er streckte nur einen Arm aus. Bri kam langsam zu ihm und schlang die Arme um ihn. Sie fühlte sich auf einmal zu Tode erschöpft, sie spürte, wie Tränen in ihre Augen traten. „Sie werden sterben", brachte sie hervor und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. „Sie werden alle sterben und niemand wird je wissen, was hier gerade geschieht!"

Henry fuhr ihr über die Haare und legte sein Kinn auf ihren Scheitel.

„Es ist ... so ungerecht", wisperte Bri in sein Hemd. „Warum passiert das?"

Henry atmete zittrig ein. „Ich weiß es nicht, Brisi."

Bri kniff die Augen zusammen. „Was tun wir jetzt?"

Henry gab keine Antwort. Weil es nichts gab, was sie tun konnten, wusste Bri. Es war vorbei. Die Septentrier konnten ihre Richtung nicht verlassen und in ihrer Not würden sie einander umbringen, sofern sie nicht vorher verhungerten oder verdursteten. Ganz gleich, welcher Seite sie angehörten: Städter, Zwischenstädter, Nordpiraten, Südpiraten ... sie waren so gut wie tot. Es gab nichts mehr, was Bri und Henry tun konnten, um diesem Schicksal entgegenzuwirken.

Bri schlang ihre Arme fester um Henry, er tat es ihr nach. Es war das Einzige, woran sie sich noch festhalten konnten. Bri versuchte, die Panik hinunterzuringen, die sie übermannen wollte.

Ein Klopfen ließ beide zusammenfahren.

Doch es kam nicht von der Tür, sondern aus der Wand gegenüber.

Henry ließ Bri los und trat einen Schritt vor. Wieder war das leise Pochen hinter der stuckverzierten Wand zu vernehmen.

„Was zum ...?", flüsterte Bri.

Dann sprang plötzlich eine kleine Tür auf, die durch das Muster in der Wand verborgen gewesen war, und ein Mann purzelte in den Raum.

Bri und Henry wichen zurück, als der Mann sich aufrichtete, Staub von seiner Kleidung klopfte und sich umsah, bis sein Blick an Bri und Henry hängen blieb.

Es war der Mann, den Bri auf der Pressekonferenz gesehen hatte. Bri starrte ihn an, glaubte noch immer, ihre Augen spielten ihr einen Streich. Denn es war unmöglich, er konnte nicht hier sein.

Vor ihr stand Benjamin Paas.

Bri dachte nicht eine Sekunde nach. Sie ging zu ihm, ballte ihre Hand zu einer Faust und schlug dem Mann so fest ins Gesicht, dass es knackte.

„Brisi!" Henry zog sie schnell einen Schritt zurück, bevor sie ein weiteres Mal zuschlagen konnte. Was sie ohne Zweifel getan hätte.

Benjamin Paas hielt sich die Nase. „Du bist ... großgeworden", sagte er mit einem verzerrten Lächeln.

„Eine Melodie? Was Besseres ist dir nicht eingefallen?", rief Bri wütend und wollte sich losreißen.

„Brisi, halt! Wer ist das?", fragte Henry.

Bri riss sich los und starrte den Mann an. „Benjamin Paas", brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Henry sah erst ungläubig Bri an, dann Benjamin. „Oh." Keine Sekunde später hatte er auch Henrys Faust im Gesicht.

Benjamin Paas nickte langsam, als er sich wieder aufrichtete. „Das habe ich wohl verdient." Er lächelte mit Blut auf den Zähnen. „Aber sie schlägt fester zu als du, mein Freund."

„Hättest du mir nicht nebenbei noch ein Instrument beibringen können?", fauchte Bri, verzweifelt um Beherrschung ringend.

„Briseis, ich hab's versucht, aber du bist so unglaublich unmusikalisch, dass – okay, okay, tut mir leid", sagte er mit erhobenen Armen. „Aber du bist hier, Briseis! Du hast es gefunden, oder nicht?"

Sie trat einen Schritt auf ihn zu. „Nein, du hast mir ein Land namens Supra versprochen – nicht Aurora!" Alles kochte hoch und die erste Träne purer Wut rann Bris Wange hinab. „Hast du eigentlich eine Ahnung, was ich deinetwegen durchmachen musste? Was Anna deinetwegen – nur, weil du gelogen hast! Weil du diese verfluchten Zahlen einem kleinen Kind anvertrauen musstest!"

Benjamin Paas hob vorsichtig beide Hände. „Briseis, lass es uns erklären –"

„Du hättest zurückkommen können", rief sie. Hätte Henry sie nicht festgehalten, hätte sie sich gleich nochmal auf Benjamin gestürzt. Sie sah ihn verächtlich an. „Aber die ganze Zeit über ... hast du dich hier versteckt."

Benjamin Paas sah sich in dem großen Raum um. „Komm mit und lass es uns erklären."

Bri schnaubte verächtlich. „Du widerwärtiger –"

„Deine Mutter ist krank", sagte er schnell. „Bitte, rede mit ihr."

Bri starrte ihn an. Sie brachte kein Wort raus.

„Myrne Bandowski ist hier in Aurora?", fragte Henry an ihrer Stelle.

Benjamin sah Bri flehend an. „Ich kenne einen Weg hier raus." Er nickte zu der versteckten Tür in der Wand, durch die er gekommen war. „Eine Bekannte von uns hat mal hier gearbeitet." Er trat einen Schritt vor. „Briseis, wenn ihr nicht mitkommt, werdet ihr dieses Gebäude nie wieder verlassen", sagte er eindringlich. „Ich verspreche dir, dass wir dir alles erklären werden – aber ihr müsst mitkommen."

Bri und Henry wechselten einen kurzen Blick, dann nickten sie beide gleichzeitig.

Benjamin Paas atmete erleichtert auf und wollte sich umdrehen, doch Henry hielt ihm am Arm zurück. „Wir hatten heute den schlimmsten Tag aller Zeiten", sagte Henry leise. Er zögerte. „Gut, den schlimmsten halben Tag aller Zeiten." Er zog Benjamin mit einem Ruck näher und senkte seine Stimme noch weiter. „Wenn ihr ihr wehtut ... wird mir nichts anderes übrigbleiben, als euch langsam und qualvoll umzubringen."

16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt