Lukas

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Robin starrte sie an. „Was?"

Bri keuchte erleichtert auf. „Ich bin – ich war es immer! Ich bin doch diejenige, die die Zahlen kennt!"

„Was?"

„Robin!"

„Du – kennst sie?"

„Sie sind –"

„Nein, sag sie mir nicht." Robin schüttelte den Kopf. „Sag gar nichts mehr, okay?"

Bri starrte ins Nichts. Sie wollte erleichtert sein – sie wusste, sie musste erleichtert sein. Doch das hier war der denkbar schlechteste Ort, um sich an ein solch gewaliges Geheimnis zu erinnern. „Oh Gott, ich werde sterben", wurde ihr klar. „Robin, ich muss hier weg. Die Südpiraten dürfen die Zahlen nicht wissen", wisperte Bri. „Ich muss zu Henry!"

Robin rieb sich das Kinn, während er nachdachte. „Okay, ich ..." Er schluckte schwer und nickte. „Ich werde dich hier rausbringen."

„Danke", hauchte Bri und versuchte gar nicht erst, ihre Tränen zurückzuhalten. Sie griff nach seiner Hand und drückte sie. „Danke, Robin –"

Robin sprang auf die Füße. „Ich hole Poppy, dann –"

„Wen?"

Er winkte ab. „In fünf Minuten machen wir uns auf den Weg, okay, Briseis?"

„Wir müssen Connie mitnehmen."

Robin nickte und ging rückwärts zur Tür. „Halt noch kurz durch, ja?"

Dann war er weg, die Tür war auf einmal zu und Bri allein mit Connie. Sie legte ihr behutsam eine Hand auf die Schulter und schüttelte das Mädchen. Einen Augenblick glaubte sie, Connie sei tot. Doch dann schlug diese die Augen auf und sah Bri wütend an.

„Hör auf, mich zu nerven, Briseis."

„Wir verschwinden, Connie", sagte Bri aufgeregt und vollkommen panisch zugleich. „Kannst du gehen?"

Connie drehte langsam den Kopf, der noch immer auf Bris Bein gebettet war, in Richtung Tür. Sie schloss die Augen. „Du halluzini- ... dings, du hast Wahnvorstellungen", lallte sie undeutlicher denn je.

Bri wusste, die Zeit drängte. Lange würde Connie den Schlafentzug nicht mehr überleben, ihr Herz würde vor Schwäche aufhören zu schlagen – so zumindest fühlte es sich bei Bri bereits an. Ächzend ergriff sie die Arme des Mädchens und setzte sie gegen die Wand. Wie ein nasser Sack rutschte Connie zur Seite und Bri hatte alle Mühe, sie aufrechtzuhalten.

„Robin bringt uns hier raus", wisperte Bri ihrer Freundin zu, die die Lider halbgeöffnet hatte und Bri das erste Mal seit Langem wirklich anzusehen schien. „Wir müssen von hier verschwinden, Connie, hörst du? Sonst sterben wir!"

Connie nickte mit schmerzverzerrter Miene. „Das ist okay. Bitte, lass mich ... lass mich einfach sterben, ich habe nichts mehr ... ich kann nicht mehr ..." Sie holte rasselnd Luft. „Ich will doch nur, dass es aufhört ..."

„Pscht", machte Bri verzweifelt. „Du wirst sehen, gleich geht die Tür auf und wir verschwinden und dann sind wir in Sicherheit und dann –"

Die Tür ging tatsächlich auf. Bri wandte sich mit unklarem Blick um, alles verschwamm. „Robin, du hast dich beei-" Sie brach ab. „Robin?", fragte sie undeutlich und ließ Connie los, die mit einem leisen Stöhnen zur Seite kippte und reglos liegen blieb.

Es war nur eine verschwommene, schwarze Gestalt, ein Schatten, der sich auf Bri zubewegte und den ihr Augen nicht scharfstellen konnten. „Robin?", hauchte Bri undeutlich.

Ein Lachen erklang, wenige Zentimeter von Bris Ohren entfernt, schien es ihr. Es war ein bitteres, wütendes Lachen, das Briseis einen Schauer über den gesamten Körper jagte. Es war Lukas Fitz–Becket.

„Du ... kleines Miststück", hörte sie ihn sagen. Er stand genau vor ihr, hoch bäumte sich seine dunkle Gestalt über ihr auf.

Es kostete sie alle Kraft, die sie noch hatte, ihren Kopf zu heben und in das Gesicht des Piraten zu schauen. Voller Zorn blickte er auf sie hinab, er hielt eine Flasche in der rechten Hand, der Geruch von Alkohol drang in Bris Nase. Ihr wurde speiübel und sie begann zu zittern.

„Du bist wahrhaftig das verfluchteste Miststück, das mir je unter gekommen ist", fauchte die dumpfe Stimme über ihr. Lukas nahm einen letzten, tiefen Schluck, dann schmiss er die Flasche gegen die Wand, wo sie mit einem viel zu lauten Klirren in tausend Scherben zersprang.

„Ich kann dir nicht helfen", hauchte Briseis, den Blick noch immer auf das wutverzerrte Gesicht gerichtet. „Ich kann nichts tun ..."

Auf einmal krallte sich eine Hand in ihre Haare und riss sie hoch. Bri stöhnte auf und umklammerte Lukas' Hand, die sie gepackt hielt. Einen Lidschlag lang blickte er auf sie hinunter, dann schlug er ihr mit seinem Handrücken ins Gesicht.

Bri spürte es kaum, sie spürte nur die Tränen, die sich einen Weg über ihre Wangen bahnten. „Du kannst nicht –", keuchte sie erstickt, doch Lukas unterbrach sie.

„Die Regeln haben sich geändert, Briseis Bandowski", fauchte er und schleuderte sie zu Boden. Sie schnitt sich die Hände an den Scherben auf.

Es ist die Melodie, lag ihr auf der Zunge, doch Bri biss die Zähne zusammen.

„Du bist betrunken", brachte sie stattdessen heraus. „Wenn du mich umbringst, dann ist es vorbei und – und ..."

„Ja, was und?", hörte sie ihn sagen. Dann erschien ein Stiefel in ihrem Blickfeld und im nächsten Moment trat Lukas mit einer ungeahnten Kraft auf ihre blutigen Finger.

Der Schrei, der sich aus ihrer Kehle erhob, konnte das Knacken ihrer brechenden Glieder nicht übertönen. Sie versuchte, seinen Fuß von ihrer Hand zu schieben, doch er bewegte sich kein Stück. Stattdessen beugte Lukas sich zu ihr hinunter und fragte: „Sag mir, was du weißt – sag mir, WO es ist!"

Es ist die verfluchte Melodie!, schrie alles in ihrem Inneren. ES IST DIE SCHEISS MELODIE!

Lukas begann, seinen Fuß zu drehen. Es knackte erneut, Bri konnte nur noch wimmern. Sie glaubte, vor Schmerz das Bewusstsein zu verlieren – sie betete, ohnmächtig werden, sterben zu dürfen – doch ihre Gebete wurden nicht erhört.

Mit einem letzten Ruck zog Lukas seinen Fuß zurück und trat ihr in die Seite, sodass sie auf den Rücken geworfen wurde. Bri kniff die Augen zusammen und umklammerte ihre gebrochenen Finger mit der Linken.

„Ich lasse mich nicht mehr von dir zum Narren halten", zischte Lukas und war auf einmal über sie gebeugt. Er legte eine Hand um ihren Hals und drückte zu. Nicht so fest, dass Bri keine Luft mehr bekam, doch fest genug, um ihr jegliche Bewegung unmöglich zu machen.

Bri wollte etwas sagen, doch sie hatte solche Angst, gebrochen worden zu sein und ihm von der Melodie zu erzählen, dass sie keinen Ton hervorbrachte.

„Du bist ein Nichts", flüsterte Lukas an ihrer Schläfe.

Bri kniff die Augen zusammen.

„Große Menschen haben dir etwas anvertraut und dich so auf das Schachbrett gebracht", fuhr Lukas voller Abscheu fort, „aber du bist nur ein Kind – ein unbedeutendes Kind, das nicht mehr wert ist als der Dreck unter ... Du ... bist ... nichts!"

Irgendetwas passierte in diesem Moment in Bri.

Sie konnte nicht fassen, dass es so weit gekommen war. Hier lag sie; in ihrem eigenen Blut, mit gebrochenen Fingern und einem Herzen, das jederzeit das Schlagen aufgeben würde – wie hatte es nur so weit kommen können? Wieso glaubte dieser Mann, der sie niederdrückte, ihr all das antun zu können?

Bri war so außer sich vor Zorn und Verzweiflung, dass sie die Müdigkeit und den Schmerz für eine Sekunde vergaß. Während ihre eine Hand versuchte, den Piraten von sich wegzuhalten, fuhr die andere über den Boden. Dann umschlossen ihre gebrochenen Finger eine Scherbe, die sich umgehend in ihr Fleisch schnitt. Ohne zu zögern rammte Bri das Glas in Lukas' Augapfel, wirbelte ihn herum, sodass sie auf ihm saß und ihren Fuß in seine Kehle drücken konnte.

Er schaffte es nicht mal zu schreien, sie schnürte ihm die Luft ab. Ein widerwärtiges Gurgeln drang ausseiner Kehle, während der Pirat versuchte, die Scherbe aus seinem sprudelndenAuge rauszuziehen. Bris Arme und Beine zitterten, der Todeskampf von LukasFitz–Becket schien Minuten zu dauern. Dann endlich regte er sich nicht mehr.

16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt