Als Bri das nächste Mal aufwachte, merkte sie sofort, dass etwas anders war.
Sie fühlte sich ausgeschlafen.
Sie gähnte und streckte ihre Arme aus. Ihre gebrochene Hand pochte, doch es schien ihr ein gutes Zeichen, überhaupt wieder etwas zu spüren.
Ihr Blick fiel auf Henry, der auf dem Stuhl eingeschlafen war. Er schlief tief und fest. Bri setzte sich vorsichtig auf und musterte ihn. Die sorgenvolle Miene war vollkommen einem friedvollen, fast kindlichen Ausdruck gewichen. Sein Atem ging ruhig und stetig. Bri spürte das seltsame Verlangen, die zwei Schritte aus dem Bett heraus zu ihm zu gehen und sein Gesicht zu berühren.
„Henry?", sagte sie leise. „Hey."
Er regte sich und öffnete langsam die Augen. Henry sah sich kurz um, bis sein Blick an Bri hängen blieb. „Guten Morgen." Er stand auf und streckte sich. „Verdammt, mein Rücken. Wie fühlst du dich?"
„Ganz okay, schätze ich", murmelte Bri.
Er nickte und setzte sich langsam zu ihr auf die Bettkante. Sie sahen sich an. „Ich weiß, du bist vermutlich nicht in der Verfassung, aber ... willst du reden?", fragte Henry etwas unschlüssig.
„Ich weiß nicht, was ich sagen könnte", flüsterte Bri. Sie schüttelte den Kopf, da sie merkte, wie erneut Tränen in ihr aufstiegen, und sie fand, sie hatte die letzten Tage mehr als genug davon vergossen. „Henry, es tut mir so unfassbar leid –"
Henry zog sie zu sich und sie umarmten sich das erste Mal seit Monaten. Sie hielten einander fest, so fest, wie nur irgend möglich. Bri holte tief Luft und schwor sich, nie wieder zu vergessen, wie Henry roch. Es war vermutlich nur Einbildung, aber Bri hätte schwören können, dass er nach Seeluft roch.
„Ich dachte, ich hätte mehr Zeit", sagte Henry irgendwann leise in ihr Haar. „Ich dachte, ich könnte eine Weile sauer auf dich sein und irgendwann ... Es tut mir leid, Brisi. Alles. Das hätte nicht passieren dürfen."
Sie löste sich ein Stück von ihm und sah ihn an. „Warum kannst du nicht schlechter sein?", flüsterte sie und schüttelte den Kopf.
Er lächelte. „Schön, dass dich das immer noch überrascht."
Sie schwiegen einen Moment. „Du hast mir nie erzählt, dass du Epilepsie hast", sagte Bri irgendwann.
Henry schnaubte. „Weil ich dachte, dass es nie wieder eine Rolle spielen würde." Er holte tief Luft. „Als Robin, Max und ich bei den Piratenjägern waren, gab es einen ... Unfall. Ich hatte vermutlich ein Schädelhirntrauma, das nicht verheilt ist. Als ich nach Hause kam, hatte ich fast jeden Tag Anfälle. Als ich zwölf war oder so, hat es wieder aufgehört." Er zuckte die Schultern. „Es weiß fast niemand in Septentrio, weil meine Eltern Max und mich unter Verschluss gehalten haben, als wir aus der Gefangenschaft zurückgekommen sind."
„Du, das ist jetzt vielleicht 'ne dumme Frage, aber ... kann man daran sterben?"
Er lächelte. „Nicht, wenn die anderen aufpassen." Auf Bris fragenden Blick hin erklärte er: „Das Gefährliche ist, dass ich stürze, wenn ich einen Anfall habe. Imo bemerkt meist, wenn ich kurz vor einem Anfall bin, dann kann er Sachen aus dem Weg ziehen, oder Leute um mich herum auf mich aufmerksam machen ..."
„Imo ..." Bris Unterlippe begann zu zittern. Sie vergrub ihren Kopf an Henrys Schulter. „Ich hätte ihn beinahe umgebracht – er hat mir das Leben gerettet und –"
Henry schüttelte den Kopf und nahm ihre Hand. „Es geht ihm gut. Wirklich. Wir haben ihn nur nicht mitgenommen, weil er zu viel Aufmerksamkeit erregt."
Bri wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte Angst, dass die kleinste Bemerkung alles wieder zerbrechen lassen könnte. „Danke, dass ihr trotzdem gekommen seid", sagte sie schließlich.
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16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im Meer
Teen FictionDer zweite Teil der 16521-Reihe.