Ihr Privileg

33 10 1
                                    

„Wirklich, ich hasse Menschen, die mir unnötige Hoffnungen machen", sagte Gabriel, während sie sich auf den Weg zur Tür machten. „Also sollte das Ding da nicht funktionieren, mache ich euch beide kalt."

Bri sah ihn beleidigt an, Henry zuckte nur die Schultern. Sie zwängten sich an neugierigen Gefangenen vorbei, das Gemurmel der tausend Insassen war ohrenbetäubend.

„Du glaubst, du kannst das, ohne uns alle in die Luft zu sprengen?", fragte Henry leise und rieb sich die Hände.

Bri nickte. „Klar."

„Neue, Neue, Neue!", rief plötzlich ein dürrer Greis mit langen, fettigen Haaren, der vor Bri und Henry gesprungen war. In seinen Augen war nichts zu erkennen außer Wahnsinn, während er Bri von oben bis unten betrachtete. „So jung und schön noch!", kicherte er und streckte eine Hand aus. „Darf ich die Haare deiner Freundin anfassen?", fragte er furchtsam an Henry gewandt.

Henry zog Bri von dem Mann weg und knurrte: „Probier's und du hast gleich gar keine Zähne mehr."

Sie erreichten die große Tür, durch die die Gefangenen in die Halle kamen. Gabriel und seine Leute schoben die Masse an Schaulustigen zurück, die sich gebildet hatte.

„Brisi, los."

Bri nickte und sie folgte Henry. Sie legte die kleine Sonne direkt vor die Tür und sagte: „Zwei." Wie zur Bestätigung knackte es in der Kugel.

„Bist du dir ganz sicher, dass das reichen wird?", fragte Henry leise.

„Henry, hast du dir einen dreistündigen Vortrag über die Funktionsweise von Charlie anhören müssen oder war ich das?", fragte Bri gereizt. „Genau, also halt den Mund." Gabriels Leute hatten den Halbkreis gut zwanzig Meter erweitern können. „Weg hier." Die beiden gingen schnellen Schrittes zu Tom am Rand der Menschenmenge.

„Fertig?", rief Bri über den anschwellenden Lärm hinweg. Gabriel und viele andere seiner Leute stimmten zu und Bri holte tief Luft.

„Es ist zu laut, die Bombe wird so niemals detonieren", sagte Henry.

Bri konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Natürlich würde Charlies Bombe detonieren. Langsam fühlte sie sich dem kleinen Charlie gegenüber wie eine überstolze Mutter ... Sie ignorierte den Lärm, fixierte ihren Blick auf die goldene Kette, die auf dem dreckigen Boden lag, und wollte gerade Charlies Namen rufen, da hallte ein so lautes Kratzen durch das riesige Gefängnis, dass sie sich die Ohren zuhalten musste. Mit einem Mal war alles mucksmäuschenstill. „Was zur Hölle –?", stieß Tom neben ihr hervor.

„Das klingt, als würde jemand an einem Mikro rascheln", murmelte Henry, den Blick an die Decke gerichtet.

Als eine Stimme einsetzte, war Bri sich sicher, ihre Trommelfelle würden zerreißen. „Aufmerksamkeit." Die hatte die Sprecherin alle mal. Der Reaktion der anderen Gefangenen nach zu schließen, war eine Durchsage in diesem Gefängnis nicht allzu gängig. Mit offenen Mündern und weit aufgerissenen Augen suchten die Leute die Decke nach Lautsprechern ab.

„Wir benötigen Ihre Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren. Sofern Sie sich an meine folgenden Anweisungen halten, sind Probleme nicht vorgesehen. Legen Sie sich bitte mit dem Gesicht nach unten auf den Boden."

Blicke wurden gewechselt. Einige kamen der Aufforderung umgehend nach, andere blieben nach wie vor erschrocken stehen.

„Legen Sie sich auf den Boden, das Gesicht nach unten, die Hände auf dem Rücken verschränkt", wiederholte die Frau mit freundlicher Stimme. Zu freundlich für Bris Geschmack. „Wir können für diejenigen, die sich unseren Anweisungen wiedersetzen, keine Garantien geben", fügte sie hinzu.

„Sie sehen uns", sagte Henry und zog Bri und Tom an den Ärmeln auf den Boden.

Nach zehn Sekunden lagen die meisten der Gefangenen auf dem Boden. Es war das erste Mal, seit Bri hier war, wirklich still.

„Vielen Dank", knallte die Stimme der Frau erneut durch den Raum. „Bitte warten Sie auf weitere Anweisungen."

„Oh Gott, jetzt bringen sie uns um", schrie ein Mann hysterisch. Bri erkannte den Typen, der ihre Haare hatte anfassen wollen. „Oh Gott, oh Gott, oh bei allen fünf Richtungen, nein! Jetzt bringen sie uns um! Sie werden uns alle einzeln vergasen und –"

Plötzlich sprang die Tür auf, die sie eben noch hatten wegsprengen wollen, und mehrere Dutzend schwarzgekleideter Soldaten strömten in die Halle, allesamt bis an die Zähne bewaffnet.

Bri sah mit sinkendem Herzen, wie Charlies Kette über den Boden rollte und wenige Meter von ihr entfernt an der Wand zum Liegen kam.

„Die Kette", flüsterte Bri.

Henry sah sie warnend an. „Brisi, nein!"

Doch sie war schon aufgestanden und rannte geduckt darauf zu. „Runter, auf den Boden!", schrie ein Soldat und in weniger als einer Sekunde hatten fünf weitere ihre Gewehre auf Bri gerichtet.

„Brisi, manchmal glaube ich wirklich, du bist zu blöd für alle fünf Richtungen." Henry war ihr gefolgt und sah sich nach den Soldaten um. Sie griff nach der goldenen Kette und hob sofort die Arme in die Luft.

„Auf den Boden, Kinder, auf den BODEN!"

„Ja, ist ja gut", sagte Bri mit pochendem Herzen, als sie sich mit erhobenen Armen auf den Boden begaben.

„Sehr schön", hallte wieder die Frauenstimme durch das Gefängnis. „Wir danken für Ihre Kooperation."

Sterben!", schrie der Alte wieder. „Sterben werden wir, wir alle!" Er sprang auf und rannte auf einen der Soldaten zu.

„Stehen bleiben, bleiben Sie –" Einen Meter, bevor der Mann ihn erreichen konnte, drückte der Soldat ab.

Ein Schreien ging durch die Menge, welches umgehend wieder abebbte.

Ein lautes Räuspern erklang. „Vielen Dank für Ihre Kooperation", wiederholte die Durchsagendame. „Wir suchen nach den Insassen 93629 und 93630."

Alle sahen sich verwundert um.

„Felix Goldberg und Sophie Schulz." Bri und Henry erstarrten. „Besser bekannt als Briseis Bandowski und Henry Fitz–Becket."

Bri hob ihren Kopf und sah Henry unsicher an. „Werden wir sterben?", flüsterte sie.

Henry dachte nach. „Entweder das oder ein wenig länger leben."

Bri stand auf, die Arme hoch über den Kopf gestreckt. Henry tat es ihr nach und ein Soldat rief: „Hier rüber!", als er sie erblickte.

Ein Mann ohne Maske, aber keineswegs weniger bewaffnet als seine Soldaten, kam schnellen Schrittes durch den Raum auf sie zu und Bri stellte sich näher zu Henry. Ein Flüstern ging durch die Menge, das langsam anschwoll. Bri hörte immer wieder ihren und Henrys Namen, wie ein ehrfürchtiges Echo.

„Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten", rief der Mann mit einem Lächeln, als er näher kam. „Nehmen Sie ihre Hände runter", bat er, wobei sein Schnauzer beim Lachen auf und ab wippte. „Es handelt sich hier um einen furchtbaren Fehler – bitte entschuldigen Sie." Er lächelte und wies zur Tür. „Wenn Sie mir bitte folgen würden."

„Wozu?", fragte Henry misstrauisch.

Der Mann lächelte nur und nickte zur Tür.

„Unsere Freunde kommen mit", forderte Bri, wobei ihre Stimme, wie so oft, stärker klang als sie sich fühlte.

„Ihre Leute werden in Kürze ähnliche Privilegien genießen, wie Sie beide", erklärte der Mann. Wir werden tatsächlich sterben, dachte Bri. Doch dann setzte er hinzu: „Es ist an der Zeit, Ihre Rechte in dieser Richtung neu zu verhandeln."

16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt