In weniger als fünf Minuten hatten sie den Wolkenkratzer über die Dienstbotengänge verlassen und fuhren mit einem alten Auto durch die Stadt. Die Wohnung von Benjamin Paas und Myrne Bandowski lag in einem ärmlichen Vorort. Die Hochhäuser waren grau und kaputt und sahen aus, als wären sie direkt aus Foxtrot hierher verschifft worden. Die Wände waren mit Graffiti besprüht und an jeder Ecke standen zwielichtige Typen, die verschwanden, sobald Polizisten die Straßen entlangfuhren, was hier noch öfter zu geschehen schien, als in den anderen Gegenden von Karthago. Die Menschen auf den Straßen sahen den dreien mit seltsamen Blicken hinterher, was an den teuren Kleidern liegen konnte – oder aber auch, weil zwei von ihnen gerade erst in den landesweiten Nachrichten mit der Königin aufgetaucht waren. Irgendwann gingen sie ein Hochhaus hinauf. Eine Gruppe junger Leute rauchte Gras im Treppenhaus – was Bri in schlechter Erinnerung den Magen umdrehen ließ.
Benjamin Paas schloss eine Tür auf.
Bri und Henry wechselten einen Blick, Bri ausdruckslos, Henry besorgt. Bri nickte ihm zu, als Zeichen dafür, dass sie das Folgende überstehen konnte, und betrat die Wohnung.
Die Luft war stickig, als hätte hier seit Jahren niemand gelüftet, und alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Durch die heruntergelassenen Jalousien drang das letzte Tageslicht und der Staub in der Luft glitzerte in den Sonnenstrahlen. Der Fernseher war an. Bri sah sich selbst, wie sie mit Henry und der Königin in dem Pressesaal stand. Kaum zu glauben, doch Bri sah sich lächeln.
Eine Küchengarnitur stand an einer Wand. Dreckiges Geschirr stapelte sich überall. Es erinnerte stark an ihre alte Wohnung in Uniform, dachte Bri.
In der Mitte des Raumes stand eine lange Ledercouch, auf der eine Frau in Decken gehüllt lag, die den Fernseher anstarrte, ein Taschentuch vor Mund und Nase gepresst. Sie zuckte immer wieder. Als versuchte sie krampfhaft, ein Schluchzen zu unterdrücken.
Bris Herz zog sich zusammen.
„Myr?", fragte Benjamin Paas behutsam und ging auf die Frau zu.
Sie sah erst nach kurzer Zeit weg von dem Fernseher. Sie war ordentlich in die Breite gegangen. Die Frau hatte noch grauere Haut als die anderen Septentrier in dem Raum. Blass und alt sah sie aus. Ihre blonden Haare waren fettig und mit grauen Strähnen durchzogen, sie atmete laut und schwerfällig.
Erst in diesem Moment wurde Bri klar, dass sie all die Jahre nicht mehr gewusst hatte, wie ihre Mutter ausgesehen hatte.
„Benjamin, gut, dass du –" Die Frau stoppte und riss ihren Mund auf, als sie Bri in der Tür stehen sah.
Myrne Bandowski sah aus, als würde sie den Verstand verlieren.
Bri fühlte sich ganz genauso. Ihre Augen brannten, ihre Hände zitterten.
Myrne stand mit wackeligen Beinen auf. Sie ging, gestützt von Benjamin, auf ihre Tochter zu und schon lag ihre breite Hand an Bris Wange. „Briseis", flüsterte sie. „Oh, meine Kleine." Sie umarmte Bri, die stocksteif dastand. „Sieh dich nur an", lachte Myrne und schlug eine Hand vor ihren Mund. „Wie hübsch du bist."
Bri schüttelte langsam den Kopf. „Wie konntet ihr mir das antun?", wisperte sie.
„Wollt ihr was trinken?", fragte Benjamin.
„Sehen wir aus, als wollten wir was trinken?", fragte Henry, der im Türrahmen lehnte. „Ich schätze, ihr habt einiges zu erklären."
„Wer ist dein Freund?", fragte Myrne.
„Als ob du das nicht weißt", erwiderte Bri leise.
„Mein Schatz, wie kommst du hierher?", fragte Myrne weiter.
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16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im Meer
Teen FictionDer zweite Teil der 16521-Reihe.