Das Foto

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Nach einer längeren Autofahrt in einem abgedunkelten Militärwagen, einer Tiefgarage und einer langen Aufzugfahrt gelangten sie in das obere Stockwerk eines gigantische Wolkenkratzers, dessen breite Flure mit prunkvollen Läufern, Kronleuchtern und Marmorwänden gesäumt waren.

Bri und Henry wurden von einer Frau in einem lila Kostüm in einen Raum in luftiger Höhe mit einem riesigen Holztisch und Gemälden an den Wänden geführt.

„Wenn Sie hier bitte warten würden." In der Tür drehte sie sich noch einmal um und wies lächelnd auf das Essen auf dem Tisch. „Bitte, bedienen Sie sich."

Die Doppeltüren wurden zugezogen. Bri und Henry waren allein.

„Sagte ich nicht, ich würde uns da rauskriegen?", fragte Henry nach einigen Sekunden.

Bri ging zur Tür und zog daran. Sie war verschlossen. „Du hast nichts getan, Henry. Wir sind vielleicht draußen, aber die anderen sind noch –"

„Brisi?"

„Henry, würdest du bitte eine Sekunde aufhören, du zu sein und –"

„Briseis Bandowski."

Sie holte tief Luft und drehte sich zu ihm um.

Henry stand an dem riesigen Fenster, den Rücken zu ihr gewandt. Dahinter war der atemberaubendste Ausblick, den Bri je gesehen hatte. Sie konnten die gesamte Stadt überblicken, den Wald und die Felder dahinter und sogar das glitzernde Meer in der Ferne. Unten auf den Straßen der Hauptstadt waren Menschen unterwegs, so klein von hier oben, dass sie nur als schwarze Punkte in Bris Blickfeld erschienen.

Bri lachte etwas erstickt.

„Wieso versammeln die sich alle vor diesem Gebäude?", fragte Henry und trat näher ans Fenster, um heruntersehen zu können. Eine riesige Menschenmenge hatte sich auf dem Platz vor dem Wolkenkratzer gebildet.

„Vielleicht haben sie zu viel geschimpft und müssen jetzt auch nach unten", murmelte Bri und rieb sich die Hände. „Genug gestarrt, ich will was essen." Sie ging zu dem Gedeck am Tisch. Ein großer Wasserkrug, eine Flasche mit etwas, das aussah wie Saft, eine Platte mit belegten Brötchen und eine Obstschale luden geradezu zu einem ausgelassenen Gelage ein.

„Hast du jemals so einen großen Apfel gesehen?" Bri warf Henry die leuchtendrote Frucht zu und er biss rein.

„Gott, ist der gut", seufzte er mit geschlossenen Augen und warf ihr den Apfel wieder zu, sodass sie probieren konnte. Nie war ein Geschmack intensiver gewesen. Gemeinsam machten sie sich über den Rest her.

„Ich werde zu Hause nie wieder Wasser trinken können", sagte Henry mit vollem Mund.

„Das hier schmeckt wie ..."

„... flüssiger Himmel in einer Karaffe."

„Gute Metapher, Fitz–Becket."

Als Bri einen riesigen Bissen Vollkornbrot im Mund zergehen ließ, glitten die Türen auf und ein Mann um die sechzig trat ein, gefolgt von der lila Dame und Roland Casper. Casper hatte ein Pflaster über der Nase kleben und sein Lächeln sah als einziges tatsächlich gequält aus. Auf dem Flur hatten sich einige Soldaten postiert, wie Bri kurz durch die Tür sehen konnte, bevor diese wieder zugezogen wurde.

Henry schluckte schnell den Bissen runter, während Bri sich an dem Brötchen verschluckte, das sie gerade kaute.

„Guten Morgen, geehrte Gäste", sagte der unbekannte Mann schwungvoll und aufgrund all der Manieren, die die Aurorer hier an den Tag legten, hielten Bri und Henry es für das Beste, aufzustehen. Doch so wie sie aussahen – seit Wochen nicht gewaschen, dreckige Kleidung und die Münder voller Essen – hätten sie wohl kaum einen schlechteren Eindruck auf ein Regierungsmitglied Auroras machen können.

16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt