„Töte mich", wiederholte Henry verzweifelt. „Ich halte das nicht aus!"
Bri verstand die Welt nicht mehr. Sie stürzte zu Henry und nahm sein Gesicht in ihre Hände. „Pscht", machte sie. „Hey, es wird alles gut, Henry. Sieh mich an. Wir sind bald da", versuchte sie, ihm klarzumachen. „Bald sehen wir Supra. Dann kriegst du Essen und Wasser und –"
„Doch ..." Er ergriff eine Tellerscherbe vom Boden und umschloss sie mit einer Hand.
Bri schlug sie weg. „Spinnst du jetzt völlig?" Das hier war keine Halluzination aufgrund von Dehydrierung. Irgendetwas stimmte nicht mit Henry.
„Verschwinde", murrte er und beugte sich zu der Scherbe.
Bri trat sie etwas ungelenk weg und riss Henry am Kragen zu sich. „Henry, sag mir jetzt, was hier vor sich geht!"
Er sah sie an. „Es ist vorbei, Brisi, verstehst du das nicht?", hauchte Henry verzweifelt. „Wir müssen es tun!"
Bevor Bri reagieren konnte, griff Henry unters Kopfkissen, wo ihre Waffen waren, und zog eine der Pistolen hervor. Er wollte sie an seine Stirn setzen – doch Bri stürzte sich auf ihn und befand sich plötzlich in einem Kampf um ihren eigenen Revolver.
Sie konnte gerade noch seine Hand drehen. Henry betätigte den Abzug.
Bri glaubte, ihr Arm wäre explodiert. Sie umklammerte ihren rechten Oberarm und biss sich auf die Zunge.
„Ich kann es für uns beide tun, Brisi", sagte Henry, der anscheinend nicht mitbekommen hatte, was so eben geschehen war. Bri hob unter größter Anstrengung ihren Kopf, während immer mehr Blut aus der Schusswunde sprudelte.
Henry stand auf und setzte sich auf die Bettkante. Er hob langsam die Pistole und richtete den Lauf auf Bris Kopf. Bri wich panisch zurück, bis sie an den Tisch stieß. „Henry, was machst du da?", rief sie. „Nimm die Waffe runter – bitte!", flehte sie.
„Wir müssen einfach nur sterben ...", sagte Henry. Sein Finger krümmte sich am Abzug und Bri keuchte auf –
Da verdrehten sich plötzlich Henrys Augen nach oben und er ließ die Waffe fallen. Sein ganzer Körper verkrampfte sich und er stöhnte laut auf. Dann kippte er zur Seite in die Kissen und zuckte.
Bri starrte ihn an. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie sah nur, wie jeder Muskel seines Körpers zuckte und weißer Schaum aus seinem Mund kam. Bri wusste nicht, wie lange der Anfall dauerte. Vielleicht nur eine halbe Minute, vielleicht dreißig – es war unmöglich zu sagen. Als Henry langsam ruhiger wurde und irgendwann einfach nur dalag, zwang Bri sich, endlich aufzustehen und zu ihm zu gehen. Er hatte die Augen geschlossen und atmete ruhig, fast so, als würde er schlafen.
„H-Henry?", flüsterte Bri. Er antwortete nicht. Mit zittrigen Fingern fühlte Bri seinen Puls. Er raste. Bri starrte auf ihn hinab.
Dann ging sie zu der Kiste unter der Sitzbank und holte ein Seil hervor. Sie schob Henry auf den Bauch, fesselte seine Hände auf dem Rücken und seine Füße ans Bettende.
Dann sammelte sie alle Pistolen, Messer und Scherben zusammen und versteckte sie unter dem alten Fischernetz in einer der Kisten. Aus dem kleinen Verschlag, der als Bad eingerichtet war, holte sie sich Desinfektionsmittel und Verbandszeug. Bri setzte sich an den Tisch gegenüber des Bettes. Die Pistole lag direkt greifbar neben ihr auf der Tischplatte.
Mit blutigen Fingern begann sie, die Schusswunde an ihrem Arm zu versorgen. Es war Gott sei Dank nur ein Streifschuss gewesen. Bri versuchte, die Blutung irgendwie zu stoppen, während sie gleichzeitig Henry nicht aus den Augen lassen wollte.
In ihrem Kopf ratterte es. Was war mit Henry los? Henrys Halluzinationen und Suizidgedanken konnten unmöglich etwas mit der Epilepsie zu tun gehabt haben; der Anfall hatte seinen psychotischen Zustand nur beendet. Und die Musik, die er geglaubt hatte zu hören ... Henry hatte es die letzten Wochen häufiger behauptet. Andauernd. Bri glaubte auch nicht daran, dass ihm der Nahrungs- und Wassermangel so schrecklich zusetzte. Nein, das Wahrscheinlichste war, dass Henry gerade dabei war, den Verstand zu verlieren. Mitten im Meer auf einem kleinen Segelboot.
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16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im Meer
Teen FictionDer zweite Teil der 16521-Reihe.