Königin Amabel IV

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Amabel war eine Frau Mitte sechzig und wäre auch in diesem Alter noch eine Schönheit gewesen, wäre nicht jeder Zentimeter ihrer Haut mit viel zu heller Schminkpaste bedeckt gewesen. Ihre Lippen waren blutrot angemalt, ihre Wimpern dicht und schwarz, das spitze Kinn trug sie hocherhoben, während sie zwischen ihren Untertanen hindurch ans Ende der Tafel schritt. Sie hatte eine schlanke, elegante Figur, die von einem bodenlangen, schlichten Kleid umschmeichelt wurde. Sie trug keine Krone, wie Bri insgeheim befürchtet hatte, sondern lediglich einen silbrig schimmernden Kopfschmuck, der in ihren langen, dunklen Haaren funkelte, die zu einem kunstvollen Zopf geflochten waren.

Als Amabel sich zu ihnen umwandte und vor ihrem thronartigen Stuhl stehenblieb, wurde Bri schwerer ums Herz. Amabel war definitiv keine freundliche, alte Dame mit hübschen Kleidern und teurem Schmuck: Die Frau war intelligent, erkannte Bri. In Kombination mit all den schaurigen Geschichten, die sie bisher über die aurorische Königin gehört hatte, beunruhigte Bri diese Erkenntnis mehr als alles andere.

Neben Amabel stand ein ebenfalls in die Jahre gekommener, kräftig gebauter Mann mit grimmigem Gesicht. Ella hatte ihnen von ihm erzählt: Er war Amabels ältester Berater und Beschützer, sein Name war Zacharias Leroux. Er hob mürrisch die Hände, sodass sich alle Anwesenden wieder erhoben. Schließlich wies er Henry und Bri mit einer Geste an, näherzukommen.

Wie Ella und Hopkins den beiden geraten hatten, verneigten sie sich vor der Königin erneut. Jede Zelle in Bris Körper rebellierte bei dieser unterwürfigen Geste.

Es war beunruhigend still, als Amabel nur auf die beiden herabblickte, während Bri und Henry ihre Blicke auf ihre Schuhe gesenkt hatten.

„Er erinnert Uns an Unseren ersten Ehemann", sagte Amabel plötzlich mit tiefer, schwebender Stimme. Bri konnte nicht anders und blickte auf. Amabel lächelte nicht. „Erhebt euch, Septentrier."

Bri und Henry taten, wie geheißen. Amabel musterte Henry weiter. „Er war schön. Wie er hier", erzählte Amabel und Bri musste sich zusammennehmen, um nicht auf das kostbare Kleid der Königin zu kotzen. „Er hat Uns betrogen." Sie sah Bri an. „Mit einer wie ihr hier."

Bri starrte die Frau an. Es fühlte sich an, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen. Diese Frau ist verrückt, dachte Bri angsterfüllt. Zwischen Septentrio und der Freiheit ... steht eine Verrückte.

„Sie dürfen sich setzen", sagte Amabel und Bri zog Henry schnell von der Frau weg.

Man wartete, bis die Königin Platz genommen hatte, dann setzten sich auch alle anderen an die große Tafel. Dann folgte Stille, in der Amabel einen Punkt auf der anderen Seite des Raumes fixierte.

Hopkins räusperte sich quietschend und sagte fröhlich: „Lassen Sie uns keine Zeit ver-"

Zacharias Leroux, der neben der Königin saß, hob eine Hand. „Warten Sie auf das Essen."

Bri drehte ihren Kopf langsam zu Henry um, der sich nicht rührte. Nach einigen Augenblicken gingen die Türen auf und jede Menge Tabletts mit den köstlichsten Speisen wurde in den Raum getragen, Wein und Wasser wurde ausgeschenkt und schon bald war der Raum erfüllt von Besteck- und Gläserklirren. Bri bekam keinen Bissen runter – und das nicht nur, weil es Fisch war.

Endlich hob Leroux sein Glas Rotwein an die Lippen und sagte kauend: „Bitte. Verhandelt."

Bri und Henry starrten ihn an.

„Deshalb seid ihr hier, oder nicht?" Er schluckte geräuschvoll. „Um zu verhandeln."

„Vielleicht wollen Sie erst Näheres zur Lage in Septentrio erfahren", schlug Gabriel überraschend höflich vor.

16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt