Casper

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Bri konnte nichts sehen. Bevor ihnen die Säcke wieder über den Kopf gestülpt worden waren, hatte man sie geknebelt und ihnen die Hände mit Handschellen gefesselt. Während der Fahrt wurde kein Wort gesprochen und Bri schaffte es einfach nicht, ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen.

Es war so unfassbar, was gerade alles schieflief, dass Bri es für einen grausigen Albtraum hielt. Das durfte einfach nicht wahr sein! Ihr Leben und das aller Septentrier, die es je gegeben hatte, basierte auf einer furchtbaren Lüge. Niemand, der in Septentrio lebte, war frei.

Außerdem waren Bri und Henry in der falschen Richtung. Was war damals bloß geschehen, als Benjamin Paas und Augustin Bandowski ihre Reise durch das Meernichts angetreten hatten? Hatten sie Septentrio überhaupt verlassen, wenn sie das gar nicht hätten überleben können? Was hatte es mit diesem ganzen Mythos um Supra auf sich?

Charlie, Connie und die Piraten warteten darauf, dass Henry und Bri mit der Nachricht einer Rettung heimkehrten. Doch sie hatten keine. Und so wie es aussah, würden Henry und Bri auch nicht zurückkommen.

Nach gut einer Stunde eisigen Schweigens hielt das Auto an, nachdem es durch eine Art Tor gefahren war, wie Bri anhand der Geräusche vermutete. Die Türen wurden aufgerissen und grobe Hände zogen sie aus dem Wagen.

Ein Hustenanfall neben Bri ließ sie ganz starr werden.

„Halt!", rief Bri und wollte die Arme abschütteln, die ihre umklammerten. „Stopp, bitte!", schrie sie über Henrys Husten hinweg.

Jemand riss ihr den schwarzen Beutel vom Kopf. Sie blinzelte gegen die viel zu helle Sonne und erkannte einen riesigen, eingezäunten Innenhof. Überall standen Soldaten. Sie schluckte schwer und drehte sich zu Henry um, der sich schwerhustend zusammenkrümmte.

„Was hat er?", fragte einer der Soldaten.

„As-Asthma", brachte Bri hervor. „In seiner Jackentasche ist das Medikament, bitte –"

Der Soldat, der Bri festhielt, stieß sie zu Henry, dessen Gesicht immer röter wurde. „Los, Kleine. Aber keine falsche Bewegung."

Mit den gefesselten Händen durchsuchte Bri Henrys Taschen, bis sie endlich das blaue Spray gefunden hatte. „Es wird alles gut", flüsterte sie, nachdem sie es Henry in den Mund gesteckt und draufgedrückt hatte. Sein Atem wurde ruhiger, doch er zitterte am ganzen Leib. Bri kniff die Augen zusammen und legte ihren Kopf an seine Brust. Erst jetzt spürte sie die salzigen Tränen auf ihrer Haut. Henry legte eine gefesselte Hand an ihren Hals und drückte seine Lippen auf ihre Stirn.

„Schluss jetzt", fauchte ein Soldat und zerrte Bri von Henry weg.

Bevor sie etwas sagen konnte hatte Bri erneut den schwarzen Sack über dem Kopf und stolperte mit den Soldaten in das Gebäude hinter dem Hof hinein.

Bitte trennt uns nicht, lag ihr auf der Zunge, doch sie schluckte die Worte hinunter.

Zehn Minuten lang wurde Bri blind durch Gänge, Treppen und Aufzüge geführt. Eine Tür wurde aufgeschlossen, Bri auf einen unbequemen Stuhl verfrachtet, ihre Hände an den Lehnen festgemacht und endlich zog jemand den Sack von ihrem Kopf.

Bri war in einem Raum mit Stahlwänden, vor ihr stand ein langer Tisch. Zwei Soldaten standen an der Wand dahinter und schienen auf etwas zu warten.

Henry war nicht da.

„Wo ist er?", fragte Bri mit wildpochendem Herzen. „Der Junge, wo ist er?"

Sie verzogen keine Miene.

„Wo bin ich?", fragte Bri voller Verzweiflung. „Bitte, was passiert hier? Wir würden nie irgendjemandem etwas hier tun, wir brauchen doch nur Hilfe!", begann sie zu erklären. „Es gibt in Septentrio kein Wasser mehr, in ein paar Monaten werden Millionen Menschen sterben! Wir mussten herkommen! Wir hatten keine andere –"

16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt