Die Frauen der Ernteschiffe

29 11 0
                                    

Als die Tür hinter Bri zufiel und das Schloss klickte, wusste Bri, dass es kein Zurück mehr gab. Sie stand am Rand einer riesigen Halle, die an die zehn Meter hoch war und von einem widerlichen grünblauen Licht erhellt wurde. Tausende Hochbetten ragten in die Höhe. Aus Laken und Bettgestellen waren provisorische Zelte gebaut worden.

Doch das Erste, was Bri auffiel, war der entsetzliche Gestank. Es roch nach ungewaschenen Körpern und Fäkalien, nach verrottetem Essen, Schweiß und Verwesung – und Fisch. Dieser Fischgestank war das mit Abstand schrecklichste, was Bri je gerochen hatte, die Serena war nichts dagegen gewesen.

Auf dem Boden und auf den Hochbetten saßen überall Menschen mit kurzgeschnittenen Haaren, Frauen mit eingefallenen Gesichtern, die alle nach und nach ihre Gespräche beendeten und ihre Blicke auf Bri richteten. Ob wohlgesonnen oder feindlich vermochte Bri nicht zu sagen.

Bri schluckte schwer, sie wusste nicht, was sie tun sollte – der Fluchtinstinkt drohte sie übermannen, doch ihr war klar, dass es keinen Sinn hatte. Sie war gefangen. Eingesperrt, viele Kilometer unter der Erde, mit unzähligen Fremden. Ohne Henry.

„He, du!", sagte plötzlich jemand wenige Meter von ihr entfernt.

Bri suchte nach der Person, die zu der Stimme gehörte, und erblickte eine junge Frau mit riesigen braunen Augen, die mit einer Gruppe Mädchen auf dem schmutzigen Boden saß. „Komm her."

Bri zögerte.

„Hab keine Angst", sagte die Frau freundlich und klopfte mit einer kindlichen Geste auf den Platz neben sich.

Bri ging vorsichtig zu ihr und ließ sich neben sie sinken, um endlich den Blicken der anderen Gefangenen zu entgehen, die sich jedoch schneller als Bri von der Neuaufnahme in ihrem Kreis erholten und ihre Gespräche wieder aufnahmen. Irgendwo meinte Bri sogar, Gesänge zu hören.

„Wie heißt du?", fragte die Frau. Sie hatte eine hohe, kindliche Stimme.

Bri zog ihre Knie an und schlang die Arme darum. „Äh ..."

„Was machst du hier?", fragte ein anderes Mädchen und musterte Bri misstrauisch.

„Ich –"

„Sie muss eine aus Aurora sein", sagte eine andere, die auf einem alten Brotstück herumkaute.

„Nein", sagte Bri und versuchte, wieder Herrin über ihre zittrige Stimme zu werden. „Ich bin aus Septentrio."

„Lügnerin", zischte das Brotmädchen, wobei ihr Krümel aus dem Mund schossen.

„Ganz ruhig, Nadja", bat die Frau mit den großen Augen und lächelte Bri aufmunternd zu. „Mein Name ist Linda-Marlene. Und du?"

„S-Sophie", brachte Bri hervor. Sie fühlte sich außerstande, ihren echten Namen zu offenbaren.

„Hübsch", sagte Linda-Marlene und hielt Bri ihre Schüssel vor die Nase. „Hast du Hunger?"

„Gib ihr doch nicht was von unserem Essen", fauchte Nadja. „Die ist doch noch fett genug."

„Was – was ist das hier?", fragte Bri und sah sich um, zusammengekauert zwischen diesen Fremden.

„Hier kommen alle hin, die mit den Ernteschiffen aus Septentrio losgesegelt sind", berichtete Linda-Marlene, ohne die angebotene Plastikschüssel sinken zu lassen.

„Ihr seid also aus Septentrio?", fragte Bri schockiert.

Linda-Marlene nickte. „Du auch?"

Bri nickte.

Bevor sie reagieren konnte, war Nadjas Hand hervorgeschnellt und hatte sich um ihr Handgelenk geschlungen. „Eine Piratenjägerin!", keuchte sie, als sie Bris Tätowierung sah. Ihr Blick wanderte hoch zu Bri, die schnell ihre Hand zurückzog und in ihre Jackentasche steckte. „Du verfluchte Fotze." Nadja funkelte sie an.

16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im MeerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt