Am achtunddreißigsten Tag ihrer Reise saßen Bri und Henry an dem kleinen Tisch in der Kajüte und starrten die beiden letzten, winzig kleinen Kartoffeln vor sich an. Der Hunger zerriss Bri fast den Magen. Diese beiden Kartoffeln waren das Letzte an Essen, was auf der Unsinkbar II zu finden war.
Henry schluckte schwer. „Du kannst ... du kannst sie haben, Bri", sagte er mit heiserer Stimme.
Bri sah auf. Henrys Gesichtsknochen wurden mit jedem Tag sichtbarer, Bri machte sich nicht mehr die Mühe, ihre viel zu weite Hose anzuziehen. Alles klebte und war mit einer Salzschicht überzogen – sie mussten jeden Schluck Wasser aufsparen, also wuschen sie sich mit Salzwasser. Henry hatte Sonnenbrand im Gesicht. Und auch wenn Bri von Natur aus dunklere Haut hatte als er, erging es ihr nicht besser – die Haut der beiden Septentrier vertrug das viele Sonnenlicht nicht, pellte sich ab und juckte zum Verrücktwerden.
Henry fuhr sich über die eingefallenen Augen. „Iss du es."
Bri schnaubte. „Hör auf, so verflucht gönnerhaft zu sein", murrte sie. „Keiner deiner Fans ist hier, also spiel dich nicht so auf."
„Weißt du was? Leck mich", sagte Henry, griff sich die kleinere der Kartoffeln und biss hinein. „Hätte ich gewusst, dass du noch beschissener werden kannst, wenn du hungrig bist, wäre ich sicherlich nicht mit dir losgesegelt ..."
Bri schenkte ihm einen tötenden Blick und begann, ihre Kartoffel in winzige Stückchen zu zerteilen. Sie hatte gelernt, ihre Nahrung langsam und in winzigen Portionen zu sich zu nehmen.
„Was willst du heute Abend machen?", fragte Bri gezwungen freundlich. Sie waren beide so gereizt, dass der Umgang miteinander entweder blankes Beschimpfen und Fluchen bedeutete oder aber passiv aggressive Höflichkeit. „Wir könnten Rommé spielen."
Henry legte den Kopf schräg. „Zum tausendsten Mal das langweiligste Kartenspiel aller fünf Richtungen spielen? Nein, danke."
„Leck mich", entgegnete Bri und schob sich ein Stück Kartoffel in den Mund.
„Auch ein netter Zeitvertreib – wenn ich nicht so besorgt wäre, dann Chlamydien zu bekommen."
Bri hob die Brauen.
Henry schloss die Augen. „Tut – tut mir leid, Brisi ..."
Bri schwieg.
„Ich hätte das nicht sagen sollen", murmelte Henry.
Bri stand mit ihrem Teller in der Hand auf. „Ich esse an Deck."
„Brisi, komm schon –"
Sie stieg die Leiter empor, schlug die schräge Tür hinter sich zu und setzte sich an den Hauptmast gelehnt. Die Sonne war bereits untergegangen, doch alles war noch in ein warmes, hellrosa Licht getaucht. Bri aß mit Bedacht, konzentrierte sich ganz auf diese letzte Mahlzeit für wer weiß wie lange und bemühte sich, nicht in Tränen auszubrechen.
Es ging einfach nicht mehr. Sie hatten zu wenig Platz, zu wenig Essen, zu wenig Wasser. Bri wollte es nicht an Henry auslassen, ganz genauso wenig wollte er es an ihr auslassen, war Bri klar. Doch sie wussten beide einfach nicht, wohin mit ihrem Frust und ihrer Angst.
Als es beinahe dunkel war, hörte Bri ein Scheppern aus der Kajüte, dann das Klirren von Geschirr. Sie sprang auf und kletterte zurück unter Deck.
Henry starrte auf seinen zerbrochenen Teller hinab, der in tausend Scherben auf dem Boden lag.
„Wie alt bist du?", stöhnte Bri und lehnte sich an die Leiter. „Fünf?" Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich räum das sicher nicht weg –"
„Es tut mir ... es tut mir so – so leid", keuchte Henry auf.
Bri seufzte. „Okay, Henry, Schatz ... Es ist nur 'n Teller. Und du bist weiß Gott nicht der erste, der mich 'ne Schlampe genannt hat."
Henry hockte sich auf den Boden und fuhr sich durch die Haare. „Bitte, mach die Musik aus!"
Bri starrte ihn an. „Henry ... was zur Hölle ist los mit dir?"
„Die Musik!" An seiner Stirn trat eine Vene hervor und sein Gesicht wurde röter und röter. „Bitte, bitte – zu viel rot ... auf deinen Lippen – NEIN!"
„Hey!" Bri kniete sich zu ihm und zog die Hände von seinem Kopf. „Henry, sieh mich an! Henry!"
Doch Henry schien sie nicht zu hören. Er wippte vor und zurück, Panik und Verzweiflung standen ihm ins Gesicht geschrieben. „Er schlägt uns, Mum – ich hasse ihn ...", hauchte er kaum hörbar.
„Wer?", wisperte Bri hilflos. „Scheiße, Henry, hör auf damit!"
Henry schüttelte den Kopf und schluchzte. „Bitte, ich will nicht dahin – nicht ..."
„Du bist hier", versuchte Bri, ihm klarzumachen und nahm sein Gesicht in ihre Hände. „Scht, Henry, du bist hier. Bei mir ..."
„Max ist nicht hingefallen, Opa hat ihm den Arm gebrochen ... wir müssen weg hier, raus aus dem Wald." Henry wich plötzlich zurück, bis er mit dem Rücken gegen die Bettkannte stieß. „Sie hat – sie hat mich v-ver-verraten, S-Sara – Ich habe sie geliebt, ich wollte sie beschützen, aber sie ..." Henry schüttelte den Kopf, Tränen liefen seine Wangen hinunter.
„Du bist dehydriert", sagte Bri mit zittriger Stimme, da es die einzig logische Erklärung war. „Henry, du musst was trinken." Sie ging zu dem Vorratsschrank und holte den letzten Kanister Trinkwasser hervor. Sie schenkte Henry einen großen Becher ein, während er die ganze Zeit weiter vor sich hinmurmelte.
Bri setzte sich neben ihn und legte ihm den Becher an die Lippen, die leere Worte formten. Langsam trank Henry. Bis auf sein Schlucken war nichts mehr zu hören. Bri fuhr ihm durch die Haare und den Nacken, in der Hoffnung, irgendwie seinen rasenden Puls beruhigen zu können.
„Besser?", flüsterte sie an seiner Schulter, als er ausgetrunken hatte.
Henry nickte zögerlich. „Ich kann nicht mit dir schlafen."
Bri ließ ihre Hand sinken und nahm ihren Kopf von seiner Schulter. „Du, Henry, das ... stand jetzt auch nicht wirklich zur Debatte ..."
Henry nickte. „Ich weiß, sie ist eine Piratenjägerin, und ich weiß auch, was sie mir angetan hat. Wer sie ist ... aber es wäre dir gegenüber nicht fair, Sylvie."
Bri hob die Augenbrauen. „Wer ist Sylvie? Alter, Henry. Trink besser noch was." Bri stand auf.
„Er ist immer noch da, Mama", erklang Henrys weinerliche Stimme in ihrem Rücken – so kindlich klang es, dass sich Bris Nackenhaare aufstellten und sie herumwirbelte. Henry sah mit großen Augen zu ihr auf. „Robin ist immer noch bei den Piratenjägern ..."
„Henry ..." Bri zog die Augenbrauen zusammen.
„Ich wollte ihn retten." Henry fuhr sich über die Nase. „Ich wollte Robin helfen, aber ich – ich hatte solche Angst."
Bri ging vorsichtig einen Schritt zurück. „Henry?"
Henry hob langsam den Blick, auf einmal seltsam klar. „Es soll aufhören, Bri – bitte mach, dass es aufhört!", rief er.
„Wie?", fragte Bri hilflos.
Henry sah sie fest an. „Töte mich."
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16521 Band 2: Das Lied, die Königin und die Kinder im Meer
Teen FictionDer zweite Teil der 16521-Reihe.