75. Max Verstappen

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„Ich sehe in seine Augen und dort, wo ich einst mein Zuhause sah, sehe ich nur noch einen Fremden.", begann er seinen Satz und spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Seine Hand begann zu zittern und seine Handschrift wurde zunehmend krakeliger. Er machte eine Pause, in welcher er tief durchatmete, und versuchte sich zu sammeln. „Mein Herz schmerzt, während ich diese Worte niederschreibe. Ich wünschte, ich müsste sie nicht ausschreiben und doch glaube ich, dass es mich andernfalls von innen zerfrisst. Ich möchte nicht mehr schweigen und all diese Worte in mich hineinfressen, mich dabei trösten, dass es eines Tages wieder besser werden würde. Vielleicht stimmt das sogar und doch glaube ich, dass es nicht mehr das richtige für mich ist. Jeden Tag quäle ich mich dazu ein Lächeln aufzusetzen und den Menschen in meinem Leben vorzuspielen, dass es mir gut gehen würde. Doch das ist nicht der Fall. Keiner würde mir je glauben, dass es mir nicht gut geht. Keiner könnte verstehen, wie sehr es mich innerlich zerreißt und wie viel Kraft ich aufwenden muss, um nicht endgültig zu zerbrechen. Keiner würde je glauben, wie dunkel meine Gedanken werden können und was das mit mir macht. Jeder denkt, er würde mich kennen und doch ist die traurige Wahrheit, dass mich keiner kennt. Niemand weiß, wer ich wirklich bin. Der Mensch hinter diesen hohen Mauern, die ich aufzog und hinter der Maske, die ich jeden Tag trage. Keiner kennt diesen Menschen, auch nicht er."

Max schluckte. „Ich habe wirklich geglaubt, dass er mich verstehen würde. Dass ich in ihm endlich den Menschen finde, der mich kennt und vor dem ich mich nicht verstellen muss. Ich habe mir so sehr gewünscht, dass er diese eine Mensch ist; mein Deckel zu meinem Topf. Drei Jahre später sitze ich hier und muss mir eingestehen, dass es eine reine Fiktion war. Er ist nicht der passende Deckel, der auf diesen zerbeulten Topf passt. Er ist nicht der Mensch, der mich versteht. Und jetzt sehe ich, dass ich an etwas festhalte, was schon lange ein Teil meiner Vergangenheit sein sollte und von dem ich mich trotz dessen nicht trennen konnte. Ich habe mein Leben mit diesem Menschen geteilt; ich habe mein Bett und mein Haus mit ihm geteilt; ich habe ihm mein Herz anvertraut. Dieses verkrüppelte Ding in meiner Brust habe ich in seine Hände gelegt und erwartet zu sehen, wie es heilt, doch stattdessen sah ich, wie es immer mehr verkümmerte. Es wurde von Tag zu Tag kälter; es ist, als ob er all die verbliebene Liebe rausgesaugt hat und mein Herz wie eine leere Flasche weggeworfen hat. Ich hatte gehofft, dass er meine Wunderheilung wäre und sehe jetzt, dass er Gift für mich ist. So oft habe ich versucht meine wirren Gedanken in Worte zu fassen und nie habe ich einen vernünftigen Satz zustande gebracht. Nie konnte ich das widerspiegeln, was in tief in mir fühle."

Die erste Träne tropfte auf das Blatt, blitzschnell wurde diese Stelle wellig. „Ich kann nicht mehr. Ich möchte mich vor dieser Welt verkriechen und warten, bis sie ein besserer Ort ist. Ich möchte schlafen; so lange schlafen, bis alles wieder gut wird. Und sollte es nicht dazukommen, dann möchte ich nie wieder aufmachen. Stattdessen würde ich für immer schlafen wollen, um mich vor meinen Gefühlen flüchten zu können. Doch all die Dinge, die ich Nacht für Nacht in mich hineinfresse, verfolgen mich in meinen Träumen und quälen mich. Ich wünschte mir einen Menschen, mit dem ich darüber sprechen könnte und der mich nicht für verrückt erklärt. Ich wünschte mir, dass ich mit ihm darüber sprechen könnte und weiß ganz genau, dass er mich nicht ernst nehmen würde. Ihm wäre es egal. Ich wäre ihm egal. Er würde geistesabwesend auf sein Handy starren, sich von den Einflüssen der sozialen Medien stimulieren lassen und immer nicken, während ich mit ihm spreche. Danach würde sein Blick weiter auf das Gerät in seiner Hand gerichtet sein, während er mir versichert, dass er mich versteht und für mich da ist. Ich würde ihm glauben und mich an seine Brust kuscheln; versuchen ihm zu glauben und würde doch nur wieder sehen, wie er sich nicht für mich interessiert. Die Männer in den sozialen Medien sehen, die er verfolgt und die er idealisiert."

Max atmete tief durch und starrte einen Moment lang aus dem Fenster. Der Garten lag ganz friedlich in der Dunkelheit vor ihm und vermittelte den Eindruck, als ob es nichts Schlechtes auf dieser Welt geben würde. Schon seitdem er ein kleines Kind ist, hatte die Natur immer eine besondere Wirkung auf ihn, die er nicht in Worte fassen konnte. Sie war sein Rückzugsort, sein Paradies auf Erden. Am Himmel leuchteten die Sterne und der Vollmond tauchte die Häuser der Stadt in ein helles Licht. Immer wieder schaute er auf sein Papier, um sich zu versichern, dass er all dies nicht nur träumte und im nächsten Augenblick aufwachen würde. Dass er im Bett liegt, mal wieder nicht einschlafen kann und sich den Kopf über die Zukunft zerbricht. Sein Freund würde friedlich schlafend neben ihm liegen und von alldem nichts mitbekommen. Immer wieder spielte Max mit dem Gedanken ihn zu wecken, doch glaubte er nicht, dass es eine gute Idee wäre. Jedes Mal wieder wandte er sich ab und starrte aus dem Fenster, während leise die Tränen aus seinen Augen flossen und im Kopfkissen landeten. Immer wieder las er sich die Zeilen durch und spürte mit jedem Wort, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel. Er fühlte sich merkwürdig erleichtert, in dem er seine Gefühle auf Papier schrieb, ohne sich darüber Gedanken zu machen, wie es klang. Diese Übung hatte ihm seine Lehrerin einst gezeigt und doch hatte er nie geschafft diesen Rat umzusetzen. Sobald er es versuchte, überflog er seinen Text so lange und kritisch, bis er das Papier wieder zusammenknüllte und es kurz darauf im Papierkorb unter dem Schreibtisch landen würde.

Sein Blick wanderte wieder auf das Blatt, welches vor ihm lag und er überflog die Worte, die er aufgeschrieben hatte. Dabei wurde sein Herz erneut spürbar schwerer, auch wenn er sich zuvor befreit gefühlt hatte. All die angestauten Gefühle und Gedanken der letzten Monate überwältigten ihn; fast jagten sie ihm Angst ein. Er hatte es stets geschafft sie in den Hintergrund zu schieben und somit waren sie nicht real. Er hatte sich nicht mit ihnen auseinandersetzen müssen, er hatte in seiner Scheinwelt gelebt, die zwar nicht ideal war, ihm aber dennoch tagtäglich wohlbehütet in seine Arme genommen. Kurzzeitig dachte er daran dieses Papier wieder zu zerreißen und die letzte Stunde aus seinem Gedächtnis zu streichen. Zurück in das Leben zurückzukehren und sich dem weiter zu beugen, was ihm so sehr auf der Seele lastete. Doch dann führte er sich dieses Leben vor Augen und ihm wurde erneut bewusst, wie unwohl er sich dabei fühlte und sammelte den Mut, um diesen finalen Strich zu ziehen. Und mit einem letzten Blick faltete er das Blatt zusammen und schob es in einen Briefumschlag, Am nächsten Tag schob er diesen unter der Tür durch, die sein Schicksal untermauerte und ihm kein zurück mehr ermöglichte.

𝑺𝒉𝒐𝒓𝒕 𝑺𝒕𝒐𝒓𝒊𝒆𝒔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt