88. Ollie Bearman x Dino Beganovic

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A/N: Trigger Warnung - diese Kurzgeschichte beinhaltet das Thema Selbstverletzung, versuchter Suizid sowie Suizid. Für wen dies ein sensibles Thema ist, bitte ich hier nicht weiter zu lesen. Wenn ihr selbst Probleme damit habt, sollt ihr wissen, dass Suizid nie der Ausweg ist. Es lohnt sich zu kämpfen, egal wie aussichtslos die Situation auch sein mag.
Hier noch eine Telefonnummer, an die ihr euch wenden könnt und wo ihr Hilfe bekommt: 0800 1110111

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Ein Zittern beherrschte seine Hand, so dass diese nahezu unbrauchbar war. Allmählich spürte er, wie er nach und nach die Kontrolle über seinen Körper verlor; er war nicht mehr ein Teil von ihm, sondern arbeitete gegen ihn an. Es war ein Kampf, den er nicht gewinnen konnte und diese schmerzhafte Tatsache rief er sich immer wieder ins Gedächtnis. Mit aller Kraft versuchte sein Körper ihn zu zerstören; nach und nach holte er sich jeden Bestandteil seiner Existenz. Ihm stiegen die Tränen in die Augen, während sein Blick weiter auf seine Hand geheftet war, welche unter seiner Tränenflüssigkeit immer unklarer wurde. Er spürte, sie war da, doch sah er sie nicht mehr. Das Zittern war von seiner Hand über auf seinen gesamten Körper übergegangen, auch wenn ihm nicht kalt war. Die angenehme Wärme des Junis umhüllte ihn, sowie den Rest der Bevölkerung und doch war er der einzige Mensch von ihnen, der seinen Körper unter langärmliger Kleidung versteckte. Es war nicht so, als ob er frieren würde, doch war diese aufsteigende Hitze als die mitleidigen oder verständnislosen Blicke seiner Mitmenschen, die auf ihm lagen, leichter zu ertragen. Zum Teil versuchten sie, dies nicht zu offensichtlich zu zeigen, zum anderen Teil hielten sie mit diesem Unverständnis nicht hinter dem Berg; wie dem auch sei, er bemerkte jeden einzelnen von ihnen. So hatte er angefangen auf die kurze Kleidung zu verzichten, auch wenn seine Eltern ihm mit diesem Thema schon seit Jahren in den Ohren lagen. Niemand würde jemals verstehen, aus welchen Gründen er dies tat und wenn sie es wüssten, würden sie ihn mit anderen Augen sehen. Nie wieder würde er von seinen Mitmenschen als volles Individuum wahrgenommen werden, stattdessen würden sie ihm diesen Teil absprechen und ihn aus seinem gewohnten Alltag reißen.

Ollies Blick lag weiter auf seiner Hand, welche allmählich wieder klarer wurde, als die Tränen anfingen nachzulassen. Sein Körper fühlte sich erschöpft an, doch behielt er weiterhin wie verkrampft seine Hand in dieser einen Haltung. Er konnte wieder das glänzende Metall sehen, welches wie ein Todesbeil über seinem Arm schwebte und mit nur einem Ruck darauf zusausen würde. Eine Bewegung und dieses Urteil war in Stein gemeißelt, nie wieder könnte er diese Entscheidung rückgängig machen können. Dieses Metall hatte die Macht ihn aus dem Leben zu reißen, doch war er die letzte Instanz über dieser Entscheidung. Alles wäre davon abhängig wie er sich entscheiden würde; er spielte ein gefährliches Spiel mit Leben und Tod. Er konnte sich soweit verletzen, dass er diesem Spiel ohne weiteres ein Ende bereiten konnte, doch war er über die Jahre zu einem wahren Meister dieses Spiels geworden. Er wusste, wie weit er gehen konnte und wann es brenzlig wurde; diese Grenzen hatte er getestet. Nicht nur einmal war er dabei diese Grenze zu überschreiten, doch meldete sich in diesem Moment der letzte Funken Überlebenswunsch, welcher über die Jahre schrumpfte und doch krampfhaft weiter an ihm festhielt. Er drehte die Rasierklinge in seiner Hand um nur wenige Grad und beobachtete, wie sich die Sonne auf ihr spiegelte. An der Wand bildete sich ein Schattenspiel, welches er schrieb; gewissermaßen war er der Regisseur dieser Aufführung. Der Regisseur über sein eigenes Leben und an irgendeinem Punkt hatte er dieses herausragende Werk versaut.

Ein leichter Druck und er spürte, wie sich das Metall seinen Weg durch die dünne Schicht seiner Haut erkämpfte, bis dieses dünne Gewebe nachgab und es liebevoll in umarmte. Sekunden später lief eine warme Flüssigkeit über seinen Arm und bahnte sich ihren Weg in Ricntung des Bodens. Bestimmt löste er die Klinge aus seinem Arm und setzte sie an einer anderen Stelle wieder an. Immer und immer wieder; solange, bis unzählige Bahnen an Blut über seinen abgemagerten Arm rannten. Diese Flüssigkeit, die Leben in diese leere Hülle hauchte, welche seine Eltern vor siebzehn Jahren erschaffen hatten. Ein Schmerz durchzog ihn, wenn er an sie dachte und eine Welle von Schuldgefühlen übermannten ihn. Sie hatten ihm dieses Leben geschenkt, welches er nun aus eigenen Kräften zerstörte. Es wäre einfach gewesen, wenn eine andere Person ihn aus diesem Leid erlöst hätte, doch war er es. Er kam nicht darum herum sich vorzustellen, wie sie darauf reagieren würden, wenn sie davon erfahren würden, doch wusste er, dass der Ausdruck ihrer Augen ihm das Herz in eine Millionen Teile zertrümmern würde. Wenn sie nie seinen achtzehnten Geburtstag erleben würden, ihn nie wieder liebevoll in den Arm nehmen konnten oder die Familie kennenlernen, welche er sich nach den Gegebenheiten der Natur aufbauen würde. Er war, wie alle anderen Menschen auch, ein Teil eines Hamsterrades, welches sich seit etlichen Jahren drehte und von den Menschen erwartete, dass sie den Betrieb aufrecht erhielten. Dass sie sich immer weiter fortpflanzen würden, damit das Leben auf dieser Erde nicht aussterben würde.

𝑺𝒉𝒐𝒓𝒕 𝑺𝒕𝒐𝒓𝒊𝒆𝒔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt