20 - Hartnäckige Typen

9.8K 269 246
                                    

(ca. 6700 Wörter)

𝐀𝐋𝐈𝐓𝐀
-

Ich stand wieder vor dem Spiegel im Bad, stützte mich mit der linken Hand auf den Beckenrand und versuchte mir mit der rechten zum dritten Mal einen Eyelinerstrich zu ziehen. Leugnen konnte ich es nicht: Ich war dermaßen aufgeregt, das blaue Kleid heute präsentieren zu können oder besser gesagt zu müssen. Fabio hatte mir nämlich keine Wahl gelassen, mit etwas anderem ins Bad zu gehen.
Während ich mich in Ruhe fertig machte, war er schon unten im Restaurant. Der Gastgeber, Charlie Steene, hatte ihn kurzfristig um ein Treffen gebeten und ich hatte nicht weiter nachgefragt.
Glücklicherweise hatte er mir das Kleid geschnürt, bevor er gegangen war, weswegen ich nur noch warten musste, bis er wieder zurückkam.

Dieses Mal hörte ich das Lied Deep Sea von Minelli, was mich schon wieder dazu bewegte, meine Hüfte zu schwingen. Wäre ich nur am Haare machen, dann hätte ich das sicherlich auch getan, aber da ich mir nicht noch einen Patzer beim MakeUp leisten wollte, den ich anschließend wieder fixxen musste, blieb ich still an Ort und Stelle und konzentrierte mich weiterhin auf den Look, während ich das Lied nur mit den Lippen nachsang. Nicht, dass mein Aufpasser mich schon wieder beim Träumen erwischte. Das hatte mir nämlich einiges an Selbstbewusstsein geraubt.

Sobald ich noch etwas Mascara aufgelegt hatte, trat ich einen Schritt zurück und zog meinen hohen Pferdeschwanz fester. Dann drehte ich mich um zur Badewanne, hob mein linkes Bein und stellte den Fuß auf den Wannenrand, um die Schleife um meinen Knöchel etwas zu lockern, da mir schon die Füße eingeschlafen waren, weil ich sie zu eng gebunden hatte.
Sobald das getan war, lehnte ich mich etwas zurück, um zu sehen, ob meine Unterwäsche dieses Mal hinter den hohen Schlitzen durchblitzte, aber zu meiner Erleichterung war dies nicht der Fall. Ich konnte froh sein, dass ich einen Tanga dabei hatte, der sich weitaus höher ziehen ließ. Sogar für das war ich gewappnet gewesen.

„Soo.", murmelte ich vor mich hin und stellte mich wieder vor den Spiegel, um meinen fertigen Look zu betrachten. Ohne es zu merken, hatte das Lied bereits gewechselt. Nun hatte ich nicht mehr die Unterstützung für mein Selbstbewusstsein von Minelli, sondern eine imaginäre starke Ohrfeige von Linkin Park. Eine Band, die seit 2017 nicht mehr existierte.

Ich kannte sie. Sehr gut sogar. Als Jugendliche hatte ich mir jeden Abend alle Alben durcheinander angehört, nur um alles zu vergessen, was mir Probleme bereitete.

Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Seit dem Tod des Frontsängers der Band hatte ich mir die Songs nicht mehr angehört. Ich hatte glatt vergessen, wie herzzerreißend die Texte sein konnten.

I've become so numb, I can't feel you there.
Become so tired, so much more aware.
I'm becoming this, all I want to do.
Is be more like me, and be less like you.

Das Lied Numb nahm komplett von mir Besitz. Auf meiner ganzen Haut hatte sich Gänsehaut ausgebreitet und die angenehme Wärme, die ich bis eben noch verspürt hatte, hatte sich durch eine Eiseskälte ersetzt. Ich hörte auf zu posen, stand nur reglos da und betrachtete mein Ebenbild.
Manchmal wünschte ich mir, ich würde die Lyrics nicht verstehen und nur den Klang der Musik wahrnehmen, aber was man einmal gelernt hatte, was man auswendig konnte, weil man es sich so oft angehört hatte, konnte man nicht mehr vergessen.

Was mache ich hier eigentlich?

Meine Hände fingen an zu zittern. Ich wurde schlagartig in die Realität zurück befördert. Obwohl mich die Band als Teenie immer aus schlimmen Situationen gerettet und mir geholfen hatte, diese zu bewältigen, schaffte sie mir gerade neue Sorgen und Bedenken in meinen Kopf.
Halt. Neu waren diese nicht. Ich hatte sie bloß die ganze Zeit unterdrückt, wie ich es immer machte.

The Enemy's Addiction (Alte Version)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt