Er seufzte tief und setzte sich auf die Bank. ,Warum wollen Sie als Ärztin arbeiten?"
Ich setzte mich auch. Bevor ich antwortete, saßen wir dort eine Zeit lang wie ein Trainer mit seinem Starspieler, der ein wichtiges Spiel vergeigt hatte.
„Weil ich Menschen helfen möchte." Ich log. Sehr sogar.
Aber ich kannte den eigentlichen Grund nicht, und ich wollte die Antwort auch nicht wissen. Echte Ärzte verlieren ihre Fähigkeit, menschlich und verständnisvoll zu sein, bevor sie ihr Abschlusszeugnis in den Händen halten. „Und weil ich meinen Beruf liebe."
„Nun, ich liebe Golfspielen, aber das macht mich nicht zu Tiger Woods, oder?" Er lachte über seinen eigenen Witz, bevor er wieder ernst wurde. „Wissen Sie, jeder Mensch erlebt einmal in seinem Leben eine Phase, in der er sich über die Ziele, die er sich gesteckt hat, klar werden muss. Er muss lernen, seine Grenzen zu erkennen und seine Fähigkeiten realistisch einzuschätzen.
„Versuchen Sie mir gerade zu sagen, dass ich keine Zahnärztin werden soll?", fragte ich und zwang mich zu lachen.
„Ich sage, dass Sie keine Ärztin werden sollten.« Fuller klopfte mir tatsächlich auf den Rücken, als würde er damit seinen Worten die Schärfe nehmen wollen. Er stand auf und ging zur Tür, doch dann hielt er plötzlich inne, als habe er etwas vergessen.
„Wissen Sie ...", fing er an, doch dann sprach er seinen Satz nicht zu Ende. Stattdessen schüttelte er den Kopf und ging hinaus.
Ich war so wütend, dass ich die Fäuste ballte und durch die Nase schnaufte. Aber ich versuchte mich zusammenzureißen. Ich hatte bei dem Test, den alle großen Menschen bestehen müssen, versagt. Ich hätte ihm erzählen sollen, dass ich scharf auf das Geld war. Das wäre wirklich nicht schlecht gewesen. Obwohl es diese zwei Gründe gab, warum Menschen Medizin studierten, bestand meine wahre Motivation nicht in der finanziellen Sicherheit oder dem Wunsch, anderen zu helfen.
Was mich am Arztberuf interessierte, war die Macht, die damit verbunden war. Die Macht, Menschenleben in meinen Händen zu halten. Die Macht, dem Tod ins Auge zu blicken und zu wissen, dass ich ihn besiegen könnte. Diese Macht war nur Ärzten und Gott vorbehalten.
Ich sah mich selbst als eine Art moderne Zauberin, das Skalpell anstelle des Zauberstabes, mein Klemmbrett statt eines Buches voller Zaubersprüche und Rezepte. Es schüttelte mich bei diesem lächerlichen Gedanken.
Ich hätte meine normalen Sachen anziehen, mich aus dem Krankenhaus schleichen und nie zurückkehren können. Aber dann dachte ich an meinen toten Vater und erinnerte mich an einen seiner seltenen väterlichen Ratschläge, den er mir einmal gab: „Wenn du Angst vor etwas hast, stelle dich ihr. Angst ist irrational. Der einzige Weg, deine Angst zu überwinden, ist, dich ihr auszusetzen."
So schnell, wie meine Selbstzweifel gekommen waren, so schnell waren sie auch wieder verschwunden. Diese Situation stellte nur meinen Glauben an meine Fähigkeiten auf die Probe. Und das wollte ich nicht zulassen.
Ich stand auf und machte mich auf den Weg durch die Notaufnahme, die mit Patienten und Krankenschwestern überfüllt war. Meine Kollegen an den verschiedenen Krankenbetten nahm ich gar nicht wahr. Ich verließ die Notaufnahme und die Intensivstation und ging durch die großen Schwingtüren weiter in Richtung Hauptteil des Gebäudes.
Die Türen der Büros, an denen ich vorbeikam, waren schon verschlossen. Kein Licht schien durch die Glastüren.
Die Haupteingangshalle war bis auf einen Mann vom Reinigungsteam leer, er lehnte an dem verlassenen Informationschalter und las gelangweilt in einer alten Zeitung, während sein Reinigungswagen allein in der Mitte des Raumes stand.
Er sah noch nicht einmal auf, als ich in meiner Hektik fast sein Wägelchen umwarf und dabei ein Stapel Papierhandtücher von der oberen Ablage zu Boden flatterte.
Ich ging weiter zu den Aufzügen, drückte auf einen Knopf und klopfte ungeduldig mit meinem Schuh auf den Boden.
Nach einer Weile, die mir unendlich lang erschien, öffneten sich die matten Metalltüren und ich ging hinein. Ich drückte die Taste für den Keller.
Ein irrationaler Zwang führte mich die langen Gänge zur Leichenhalle entlang. Ich war bisher erst einmal dort gewesen, als ich mir bei der Einstellung das ganze Krankenhaus angeschaut hatte. Der Weg dorthin war einfach, und ich fand die Tür, die keine Beschriftung trug, problemlos. Ich zog meine Identifikationskarte durch das Lesegerät neben der Tür, bis ich das metallene Klicken hören konnte, mit dem sich das Schloss öffnete.
Ich umklammerte die breite Klinke und hielt inne. Zum ersten Mal überlegte ich, was ich mir eigentlich beweisen wollte.
Ich hatte Angst davor, eine schlechte Ärztin zu sein, und der Grund, warum ich mir noch einmal John Doe vor Augen führen wollte, war, mich meinen Ängsten zu stellen. Was, wenn ich es nicht aushielte?

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Meine erste Verwandlung
VampireEin Biss - und Mandy ist verwandelt. Nachdem die junge Ärztin in der Pathologie von einem Toten angefallen wurde, kann sie auf einmal kein Sonnenlicht mehr ertragen, verspürt plötzlich einen unerklärlichen Blutdurst. Ist sie etwa Opfer eines Vampir...