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Ich erschrak, als ich daran dachte, dass sein Körper vielleicht gar nicht so verwundet war, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich dachte an das erstaunte Gesicht von Amy Anderson, als sie den sich krümmenden Regenwurm aus den Haaren nahm. Ihre Angst hatte aus einem harmlosen Tier ein Monster gemacht. Vielleicht hatte die Panik in meinen Gedanken die Verletzungen von John Deo ins Unwahrscheinliche übertrieben?
Nein, du bist nicht hysterisch gewesen. Du weißt, was du gesehen hast. Ich stand in dem kühlen desinfizierten Raum, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
Echte Leichenhallen sind ganz anders als die, die man immer in Filmen sieht. Sie sind nicht riesig groß und werden nicht von unerträglich hellen Lampen erleuchtet. Ganz im Gegenteil, der Leichenkeller von St. Mary's war klein und vollgestellt. Die Nachtwache hatte eine zerknüllte Papiertüte vom Imbiss auf dem Tisch liegen lassen. Es war ein ermutigendes Zeichen inmitten dieses Raumes, der dem Tod und der damit einhergehenden Demütigung gewidmet war.
Bevor ich mich an meine Aufgabe machte, ging ich einmal an den Wänden des Raumes entlang. Ich sah mir die Schränke an, die Plastikbehälter in allen Größen, die die formlosen Reste von Organen für spätere Untersuchungszwecke aufbewahrten, und die Autopsietische. Ich vermied es, auf den Tisch zu sehen, der belegt zu sein schien.
„Hallo?", rief ich. Durch den lauten Klang meiner Stimme zuckte ich zusammen. Der Raum war so still, dass man das Surren der Leuchtstoffröhren hören konnte. Der Spruch „ Tote aufwecken" fiel mir plötzlich ein. Ich hatte erwartet, eine Nachtschwester aus einem der hinteren Räume kommen zu sehen, aber es war niemand da. Die Glückliche war wahrscheinlich gerade eine rauchen. Ich musste selbst herausfinden, wo John
Doe abgeblieben war.
Der Kühlraum fasste sechs Bahren. Mit der großen Anzahl an Patienten, die wir heute hatten, war er sicherlich voll. Vielleicht war er sogar überbelegt, das heißt zwei Leute auf einer Bahre. Keine schöne Vorstellung.
Ich betrat den Kühlraum und wünschte mir sofort, ich hätte mir eine Jacke mitgenommen. Draußen zeigte der Thermostat 1° C an, und das war wirklich kalt. Zitternd schaute ich mir die sechs verhüllten Bahren an, die vor mir standen. Sie waren alle in dieselbe Richtung ausgerichtet; die Füße der Leichen zeigten zu der hinteren Wand. Ich sah auf meine Schuhe und bemerkte einen dunklen klebrigen Fleck auf dem ungeputzten Boden. Ich bekam eine Gänsehaut, als ich mir überlegte, wie lange es her sein musste, dass jemand diesen Raum desinfiziert hatte. Nicht, dass diese speziellen Patienten anfällig für irgendwelche Krankheiten oder Infektionen gewesen wären.
Ich ging zu der Bahre ganz rechts. Ich ersparte es mir, die Laken aufzudecken, um nach den Namensschildern an ihren Zehen zu suchen. Ich entschied mich dafür, die detaillierteren Blätter auf den Abdecklaken zu lesen.
Die erste Leiche war weiblich, 68 Jahre alt. Die zweite männlich, 23. So ging es weiter, alle Blätter enthielten die eine Information, nach deren Fehlen ich suchte: Namen. Ich sah kein Blatt, das den dicken roten Stempel „nicht identifiziert" trug, und es schien, als sollte sich mein kleiner Ausflug nicht gelohnt haben.
Ich rieb mir mit den Händen das Gesicht, strich mir über meine müden Augen und überlegte, was ich als Nächstes tun sollte. Wo war der Leichnam hingekommen? Es war unwahrscheinlich, dass der Gerichtsmediziner nachts ins Krankenhaus kommen würde, um die Autopsie vorzunehmen. Das hatte Zeit bis morgen. Auch wenn man ihn identifiziert hätte, hätten sie die Leiche nicht den Familienangehörigen freigegeben, bevor die Polizei sie untersucht hatte.
Er muss doch hier irgendwo sein. Aber als ich mich noch einmal umsah, war klar, dass der Leichnam verschwunden war.
Ich würde wieder hinaufgehen und in die hämischen Gesichter meiner Kollegen blicken müssen. Ich hatte es versäumt, meinem Dämon ins Auge zu sehen, aber das Leben würde auch so weitergehen wie immer. Mit derselben Bestimmtheit, die mich hergebracht hatte, drehte ich mich um und verließ den Kühlraum, ohne mich noch einmal umzudrehen. Gleichgültig, was ich auch täte, irgendjemand würde immer einen schnippischen Kommentar anbringen oder Mitleid mit mir haben.
Ich hatte schon genug negative Kritik einstecken müssen, um den Lästermäulern etwas entgegenzusetzen, auch ohne dass ich mir noch einmal das anschauen musste, was von John Deo übrig geblieben war.
Ich drückte schon die Klinke hinunter, als ich noch einmal innehielt. Aus dem Augenwinkel sah ich kurz auf den Leichnam, der auf dem Autopsietisch lag.
Trotz all meiner gespielten Tapferkeit war ich ziemlich erleichtert, dass ich den Körper des Unbekannten hier nicht mehr gefunden hatte. Hinsehen oder nicht. Das war ein einfaches Spiel, wenn mich sonst niemand dabei beobachten konnte. Aber meine Erleichterung ebbte ab, da mich ein ungutes Gefühl beschlich. Ich war mir sicher, dass John Doe dort auf dem Autopsietisch lag.
» Wenn du jetzt wegläufst, dann wird dich diese Frage immer beschäftigen'', beschwor mich eine innere Stimme. Für den Bruchteil einer Sekunde sah es so aus, als würde meine Angst die Oberhand gewinnen. Ich würde einfach die Leichenhalle verlassen und die ganze Angelegenheit vergessen.
Aber die Worte meines Vaters und die Tatsache, dass Dr.Fuller meine Fähigkeiten als nicht besonders gut einschätzte, fielen mir wieder ein. Ich wollte keine Versagerin sein, wie ich es in den Augen meines Vaters gewesen wäre. Ich wollte Dr.Fuller beweisen, dass ich für meinen Beruf geeignet war. Ich ging zu dem Tisch.Ich war kein Feigling.
Bevor ich es mir noch einmal anders überlegen konnte, zog ich mit einem Ruck das Laken von dem Körper.Jede weitere Sekunde spielte sich vor meinen Augen in Zeitlupe ab. Millisekunde für Millisekunde. In genau dem Moment, in dem ich das Laken von dem Leichnam zog, sah ich die grellbunte Sohle eines Sportschuhs darunter hervorschauen. Ich hatte keine Chance, mir darüber Gedanken zu machen: Was darunter lag, trug Krankenhauskleidung. Es war die Nachtwache. Ihr Gesicht war schreckverzerrt.
Ich habe nicht gleich angefangen zu schreien. Entweder war ich zu geschockt oder ich hatte nicht begriffen, was hier los war. John Doe hätte anstelle des jungen Mannes auf der Bahre liegen sollen! Der Anblick ließ mich erstarren.
Offensichtlich war sein Genick gebrochen. Sein Hals war aufgerissen, als hätte ihn ein Hund angegriffen. Durch den extremen Blutverlust war seine dunkle Haut aschfahl, dennoch waren weder auf seiner Kleidung noch auf dem Tisch Blutspuren zu sehen. Seine Augen waren offen. Das heißt, das eine, das er noch hatte, war offen. Das andere fehlte.

Meine erste Verwandlung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt