Ich nahm einen vorsichtigen Schluck. Der Whisky war weich und wärmte mich sofort, fast so wie das Blut, das ich gerade getrunken hatte. Meine Gedanken drehten sich um die unbekannte Frau auf dem Foto. Es war offensichtlich ein Hochzeitsfoto. Aber Nathan trug keinen Ring. Er hatte noch nicht mal einen hellen Streifen auf dem Finger. Na, das ist ja ein blöder Gedanke, dachte ich bei mir. Er kann ja auch gar nicht hinaus in die Sonne gehen. Ich musste einen Weg finden, um auf dieses Thema zu kommen. Ich musste mir eine unschuldige Frage ausdenken, damit er zu reden anfing und mir die ganze Wahrheit erzählte. Nathan setzte sich auf die Couch neben mich; dabei berührte er mich an meiner Hüfte. Ich bewegte mich nicht, und er rührte sich auch nicht. „Bist du nicht manchmal einsam?" Es schien die beste Art und Weise, das Gespräch anzufangen. Darüber hinaus war es eine ungemein persönliche Frage, von dem Ausdruck in Nathans Augen zu urteilen. Er griff den Flachmann und nahm einen tiefen Schluck. „Nein. Jan ist ja da, und wenn er nicht zu Hause ist, bin ich gern allein." „Ich meine, wird man nicht durch diese ewige Unsterblichkeit einsam?" Ich nahm ihm die Flasche aus der Hand, weil ich mir überlegt hatte, den sauren Nachgeschmack mit einem weiteren Schluck von dem Zeug herunterzuspülen.
„Na, nach dem ersten Jahrzehnt oder so scheint die Zeit zu fliegen. Ich muss zugeben, ab und zu wird es langweilig.
Und ja, auch einsam, glaube ich. Besonders wenn ich lese, dass jemand seinen einhundertachten Geburtstag oder so feiert. Dann wird mir klar, dass ich richtig, richtig alt bin. Nur werde ja nicht älter" Er lachte ein wenig und sah zu mir herüber.
„Das ergibt keinen Sinn für dich, oder?"
„Doch, schon", versicherte ich ihm. „Aber das liegt viel. leicht auch daran, dass ich schon ein wenig angetrunken bin."
Er lächelte traurig. „Es ist schwer zu glauben, dass ich irgendwann die einzige Person sein werde, die sich daran erinnert, wie es wat, zu meiner Zeit gelebt zu haben. Sicher, die Leute werden sich an die wichtigsten Ereignisse erinnern. Oder sie stehen in Geschichtsbüchern. Aber nur ich kann mich daran erinnern, wie teuer Eier und Milch 1953 waren. Ich bin der Einzige, der sich daran erinnert, wie die Brombeermarmelade von Mrs. Campbell schmeckte; und nur ich weiß noch, dass es wirklich einmal eine Mrs. Campbell gab." Ich hatte keine Ahnung, wie alt mein Meister war. Hatte Cyrus zu viele dieser einsamen Jahre überstehen müssen?
War er deshalb so versessen darauf, einen Gefährten zu haben? Mein Herz wurde mir bei diesem Gedanken schwer, und ich war überrascht, ihm gegenüber dieses Gefühl zu haben. „Dann ist es einleuchtend, dass du jemanden finden möchtest, mit dem du zusammen bist, wenn alle um dich herum, die du liebst, sterben."
Er nickte. „Ich nehme es an. Aber ich hatte dieses Gefühl schon lange nicht mehr. Vielleicht liegt es daran, dass Jan noch so jung ist, und ich das Gefühl habe, dass noch Zeit genug bleibt, darüber nachzudenken."
Aus seinem Tonfall wurde deutlich, dass ich von ihm zu eigentlich her?"
diesem Thema nicht mehr erfahren würde. ,Wo kommst du? „Von überall.« Er nahm noch einen Schluck Scotch. „Ich bin in Schottland geboren und habe dort gelebt bis .." Er sprach nicht weiter. Dann bin ich 1937 nach Brasilien ausgewandert. Dort wurde ich verwandelt.«
„Oh?" Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte.
,Von da aus bin ich nach London gegangen, dann nach Kanada, als der Krieg ausbrach
„Du bist ein Fahnenflüchtiger?"unterbrach ich ihn. Nein." Er hob eine Augenbraue. Es war der Zweite Weltkrieg. Jedenfalls bin ich dann hier gelandet." „Dann bist du weit herumgekommen." Ich fragte mich, ob ich in Zukunft auch so häufig die Länder wechseln würde. Diese Idee reizte mich nicht sonderlich.
Er seufzte. „So ist das eben. Wenn du zu lange an ein und demselben Ort wohnst und du nicht älter wirst, dann schöpfen die Leute Verdacht. Glaub mir, es ist eine wirklich lästige Arbeit, jedes Mal eine neue Sozialversicherungsnummer und eine neue Geburtsurkunde zu bekommen.
Ich imitierte den Dialekt aus den Südstaaten: „Besonders wenn du nicht von hier bist.«
Er lachte in sich hinein, dann imitierte er den Dialekt aus dem Mittleren Westen ziemlich treffend: „Keine Ahnung, über wen du redest. Ich wurde 1971 in Gary, Indiana geboren." „Aber mal im Ernst, wie machst du das?" Ich nahm noch ein Schlückchen Scotch.
Er lehnte sich zurück und legte seinen langen Arm über die Sofalehne hinter meinen Rücken. „Es ist nicht so schwer, besonders nicht in einer Kleinstadt wie hier. Es gibt genügend Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung, und deshalb gibt es ebenso viele Leute, die dir gefälschte Papiere besorgen können. Es geht nur darum, gute Kontakte zu haben. Sobald du deine Geburtsurkunde und deinen Personalausweis hast, gehst du in die richrige Behörde und sagst, ich habe meinen
Führerschein verloren."«
Den letzen Satz sprach er wieder in dem Dialekt des Mittleren Westens. Ich verzog mein Gesicht. „Lass das.«
„Was?" Er hob seinen Arm ein wenig an.
„Deinen Akzent. Den mag ich.
Nathan sah mich an, als habe er mich nie zuvor gesehen. Aufmerksam betrachtete er mich, aber ich hatte keine Ahnung, was in ihm vorging. „Vorhin im Buchladen ... wenn ich dich da geküsst hätte, hättest du mich geküsst?" Seine Stimme klang tiefer als sonst und war rau vom Alkohol. Mein Mund wurde trocken. Ich nahm noch einen Schluck Scotch, aber das half auch nicht. „Ich weiß es nicht.« „Und wenn ich es jetzt täte?«
Ich machte ein quäkendes Geräusch.
Er interpretierte es als ein Nein. „Nur einen Kuss, nichts weiter « Ich nickte.
Seine Lippen waren weich, aber kalt. Er strich leicht mit ihnen über meinen Mund, und schon spürte ich Schmetterlinge in meinem Bauch, die die Größe von Kampfjets hatten.
Ich schloss die Augen. Mir wurde schwindelig, vielleicht vom Scotch, vielleicht aber auch von Nathans Duft, den ich tief einatmete. Wahrscheinlich von beidem.
Ich öffnete leicht meinen Mund. Die Spitze seiner Zunge glitt leicht an meinen Zähnen vorbei. Ich legte meine Arme um ihn, eine Hand blieb auf seinem Nacken liegen, wo ich die kleinen Härchen von ihm spürte. Jedes mal, wenn ich einatmete, strömte Aufregung in meinen Magen. Ohne Vorwarnung zog sich Nathan zurück. Ich öffnete die Augen und sah, wie er zur Seite kippte und auf den Boden fiel.
Leyla stand hinter ihm und schaute verdutzt auf seinen leblosen Körper. Dann lächelte sie zufrieden und hob ihre runden Schultern. „Auch gut, nehme ich an.'
Bevor ich sie fragen konnte, was sie damit meinte, hatte sie in die Hände geklatscht und war verschwunden.
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Meine erste Verwandlung
VampireEin Biss - und Mandy ist verwandelt. Nachdem die junge Ärztin in der Pathologie von einem Toten angefallen wurde, kann sie auf einmal kein Sonnenlicht mehr ertragen, verspürt plötzlich einen unerklärlichen Blutdurst. Ist sie etwa Opfer eines Vampir...