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Ich gähnte. Die Wirkung des Medikamentes setzte ein. „Kann ich nicht bis nächste Woche warten, um mir all das zu überlegen? Wenn ich in deinen Verein eintrete, dann sagen sie mir sowieso, dass ich kündigen muss. Wenn nicht, töten sie mich doch eh, oder?"
Er schien davon überrascht zu sein, was ich sagte, als habe er vergessen, dass ich noch nicht auf seiner Seite war. Er machte eine Bewegung, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich aber anders und knipste das Licht aus. „Schlaf jetzt. Wir können später darüber reden."Als ob ich die Wahl hätte. Nur wenige Minuten, nachdem mich Nathan verlassen hatte, schlief ich tief und fest.
Als ich wieder aufwachte, blinzelte ich verschlafen und versuchte mich zu erinnern, wann ich mir einen Goldfisch zugelegt hatte.
Das Ding starrte mich erwartungsvoll vom Nachttisch aus an. Es schwamm in einer Kugel, in der sich ein kleines Plastikschloss befand. Einsamkeit stieg in mir hoch. Auch wenn Nathans Wohnung klein und unordentlich war, barg sie doch mehr Kleinigkeiten, die sie gemütlich machten, als mein Zuhause. Ich stellte mir vor, zu mir nach Hause zurückzukehren, in meine kahlen Wände mit den hohen Decken. Aber der Gedanke war schlimm, ich verdrängte ihn sofort wieder. Ich vergrub mein Gesicht in den Kissen und zog mir die Decke über den Kopf. Es schien eine Weile her gewesen zu sein, dass Nathan die Bettwäsche gewaschen hatte. Sie roch nach ihm, und schamlos sog ich den Duft tief ein. Ich stellte mir vor, dass er  nackt hier liegen würde, wo ich jetzt lag. Ob er Frauen mit hierher nahm?
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Nathan, so wie ich ihn kennengelernt hatte, eine Bezichung führte. Wohl kümmerte er sich um Jan, wie sich ein Vater um seinen Sohn sorgt, aber familiäre Fürsorge hatte von Natur aus ihre Grenzen. Ich hatte Nathan erst vor einer Woche getroffen, aber man brauchte kein Genie zu sein, um zu erkennen, dass Nathan und emotionale Nähe keine unzertrennlichen Begriffe waren. Es grenzte wahrscheinlich an ein Wunder, dass er sich überhaupt ein Haustier hielt.
Die Sonne war noch nicht untergegangen. Kein Geräusch kam aus dem Wohnzimmer. Während ich mein blutiges Sweatshirt ignorierte, zog ich kurz meine Jeans an und ging in Nathans T-Shirt hinaus in den Flur. Leise tappte ich in das Badezimmer. In Ermangelung einer Zahnbürste putzte ich mir mit dem Finger die Zähne, bevor ich losging, um den Rest des Apartments zu erkunden.
Nathan lag quer über einem Sessel. In der einen Hand hielt er ein Buch, in der anderen eine geladene Armbrust. Aus seinem Mundwinkel hing ein winziger Faden Speichel. Auf dem Boden neben ihm lagen zwei hölzerne Stiele und die Axt, mit der mich Jan angegriffen hatte.
„Erwartest du noch jemanden?"
Mit einem Ruck schreckte er auf. „Ich habe nicht geschlafen!"
Als der Bogen sich mit einem leisen Geräusch aus der Armbrust löste und in der Tür landete, machte ich vor Schreck einen Satz zur Seite.
„Um Himmels Willen, ich hätte dich umbringen können!«Er sprang auf. „Schleichst du dich immer so an Leute heran, oder nur, wenn sie eine tödliche Waffe in den Händen halten?« Ich ging einen Schritt zurück. „Mir ist noch nie jemand begegnet, der schläft und gleichzeitig eine Waffe in der Hand hat."
Nathan streckte seine Arme aus und gähnte laut. Jedenfalls schien er prächtig zu schlafen, obwohl er mich eigentlich bewachen sollte. „Wie sehen die Stichwunden heute Morgen aus? Sind sie zugeheilt?"
Ich hob den Saum meines T-Shirts an. Nathan nahm das Klebeband vom Verband und enthüllte eine hellrosafarbene
Narbe.„Verdammte Scheiße", rutschte es mir heraus. Ich berührte die Stelle mit meinem Finger. Das Gewebe zeigte noch nicht einmal einen Kratzer. Mein Körper hatte sich selbst geheilt, während ich geschlafen hatte. „Wie zur Hölle habe ich das denn geschafft?"
„Das Sanguinarius sagt, dass die Körpersäfte, die wir mit dem Blut zu uns nehmen, unser Gewebe erhalten und uns mit einer starken Fähigkeit zur Selbstheilung ausstatten. Ich bin sicher, dass das nicht sehr wissenschaftlich ist, aber es ist die beste Antwort auf deine Frage, die ich dir im Moment bieten kann." Er hielt inne, als fiele ihm etwas ein. „Du bist doch Arztin. Falls du der Bewegung beitrittst, kannst du vielleicht in ihrer Forschungsabteilung arbeiten."Falls. Die Entscheidung stand schon wieder zwischen uns und zerstörte die friedliche Morgenstimmung. Wir standen im Wohnzimmer und starrten uns wie potenzielle Feinde an, nicht wie Gastgeber und Gast.

Meine erste Verwandlung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt