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Ich nahm ein Taxi nach Hause, zog die Rollläden herunter und kontrollierte wie besessen alle fünfzehn Minuten meine Temperatur. Erst 34° C, dann 33° C, und sie fiel weiter. Als ich gewahr wurde, dass meine Körpertemperatur der des Thermostates im Wohnzimmer entsprach, war mir klar, dass ich wohl den Verstand verloren hatte.
Vielleicht war es ein unterbewusstes Bedürfnis, mich vor einem weiteren Schock zu schützen, oder eine bewusste Entscheidung, die Realität beziehungsweise meine Situation zu ignorieren, jedenfalls weigerte ich mich, anzuerkennen, wie merkwürdig all dies war. Ich musste eine Sonnenbrille tragen, sobald die Sonne schien, gleichgültig, ob ich mich drinnen oder draußen aufhielt. Meine Wohnung verwandelte sich in eine Höhle. Die Rollläden waren immer geschlossen. Zuerst stolperte ich häufig in dem Zwielicht, doch dann gewöhnte ich mich schnell daran. Nach einigen Tagen fiel es mir leicht, im flackernden blauen Licht des Fernsehbildschirmes zu lesen.
Als ich wieder zu meinem Dienst im Krankenhaus zurückkehrte, blieben die Veränderungen, die ich durchgemacht hatte, nicht unbemerkt. Aufgrund meiner plötzlichen Sensibilität Sonnenlicht gegenüber bat ich darum, nur Nachtschichten übernehmen zu dürfen. Aber es war unmöglich, mich zwischen all den piepsenden Monitoren und den endlosen Mails auf irgendetwas zu konzentrieren.
So viele Dinge konnten nicht erklärt werden. Es gab sehr viele Fragen, die auch die Wissenschaft nicht beantworten konnte. Außerdem war ich mir auch nicht sicher, ob ich die offensichtliche Lösung der Probleme überhaupt sehen wollte.
Doch ich konnte es nicht länger hinauszögern. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ich alle möglichen Quellen, medizinischen Fachzeitschriften und Bücher studiert hatte. Schließich musste ich die Antwort auf meine Frage, die ich so gefürchtet hatte, akzeptieren.
Eine geschlagene Stunde lief ich vor meinem Schreibtisch, auf dem mein Computer stand, auf und ab. Was wollte ich eigentlich? Erwachsene glauben nicht an Dinge, die plötzlich in der Nacht mit einem Knall auftauchen. Vielleicht sollte ich wirklich einmal zu der Psychotherapeutin gehen, die mir mein Arzt empfohlen hatte.
Als Kind durfte ich nie den Luxus genießen, die Wiederholungen von Dunkle Schatten zu schauen. Alles, was ich las, musste ich für die Schule lesen. In unserem Hause wurde alles, was mit Lust und Laune zu tun hatte, kritisch beäugt. Mein Vater, ein Anhänger der Lehren C. G. Jungs, schätzte solche Dinge mit dem Blick des Psychoanalytikers als ein Warnzeichen für einen unterentwickelten Animus ein. Für meine feministische, karriereorientierte Mutter galten sie als rotes Tuch, weil sie fürchtete, ich würde durchs Vergnügen zu einem Fußsoldaten einer Armee von Einhorn-Gläubigern.
Ich setzte mich wieder hin und wählte mich ins Internet ein. Falls meine Eltern oben im Himmel, dessen Existenz sie verneinten, weil er sich nicht logisch erklären ließ, sitzen und auf mich hinabschauen sollten, würden sie jetzt sicherlich von mir enttäuscht sein, da war ich mir sicher.
Auf komische Weise war es ihre Schuld, dass ich den Mut besaß, die Möglichkeit zu erkunden, ob ich ein Vampir war.
Ockhams Rasiermesser war eine Theorie, die mein Vater ständig zitierte. Alles musste möglichst einfach und praktisch sein. Der Himmel verbiete, dass jemals ein Objekt in unserem Haus - oder eher in unserem Museum - kaputtging oder nicht an seinem festen Platz war. Ich log immer und behauptete, ich sei gar nicht da, ich sei eine statistische Anormalität. Wenn ich das sagte, starrte mein Vater mich mit seinem schönsten missbilligenden Blick an und sagte: „Man sollte nicht über das nötige Maß hinaus die Anzahl der Dinge vergrößern, die nötig sind, um alles zu erklären."
Mit anderen Worten: Wenn etwas wie eine Ente aussah, musste es auch eine Ente sein. Oder, wie in diesem Fall, wenn es so aussah, als würde ich zu einem Vampir mutieren
„Danke, Dad", murmelte ich, als ich mir eine weitere Zigarette anzündete. Ich hatte längst akzeptiert, dass diese Dinger mir physisch nicht guttaten, aber das Ritual half, meine zerrütteten Nerven zu beruhigen. Ich gab Vampir in die Suchmaschine ein und hielt den Atem an.
Kaum glaubwürdiger, als im Kaffeesatz zu lesen oder sich auf sein Glück beim Billard zu verlassen, bot das Internet Anonymität und die Chance, etwas herauszufinden. Beides waren entscheidende Aspekte bei meiner Suche nach Wissen. Aber dennoch kam ich mir ein wenig albern vor, als ich den ersten Link anklickte.
Die Anzahl der Leute, die sich für Vampire interessierten oder sogar behaupteten, selbst einer zu sein -fand ich erstaunlich, aber die Informationen, die ihre Webseiten boten, konnte man vernachlässigen. Ich fand eine vielversprechende Spur, eine professionell wirkende Homepage, auf der man die Möglichkeit hatte, eine Nachricht zu hinterlassen. Ich entschied mich an dieser Stelle anzufangen, und so begann ich, meine Situation zu schildern.
Es fiel mir noch nie leicht, etwas zu schreiben, aber mit jedem Wort, das ich in das kleine weiße Textfeld schrieb, kam ich mir noch blöder vor. Nach verschiedenen frustrierenden Entwürfen gab ich auf und kürzte den ausführlichen Text auf zwei abgebrochene Sätze: „Von Vampir angefallen. Bitte um
Rat."
Ich musste nicht lange auf eine Antwort warten. Noch bevor ich aufstehen konnte, um auf die Toilette zu gehen, kam das Signal, dass ich eine E-Mail erhalten hatte.
Die erste Antwort informierte mich darüber, dass ich ein Fall für die Psychiatrie sei. Der zweite Schreiber mutmaßte, ich würde zu viele Spätfilme schauen. Eine weitere Person versuchte mich in verständnisvollem Ton davon zu überzeugen, dass ich mich aus meiner offensichtlich ungesunden Beziehung lösen sollte. Dafür, dass es sich um eine Seite für Menschen handelte, die an Vampire glauben sollten, zeigten sie nicht viel Verständnis für die Möglichkeit, dass Vampire tatsächlich existieren könnten.
Ich begann die Antworten zu löschen, ohne sie gelesen zu haben, bis eine Betreffzeile meine Aufmerksamkeit erregte.
1320 Wealthy Ave.
Ich kannte die Adresse. Die Straße war nicht weit von meiner Wohnung entfernt. Die Gegend lag direkt neben der Innenstadt. In dieser Straße gaben College-Studenten, die zum ersten Mal von zu Hause fort waren, ihr Taschengeld für Drucke von der Künstlerin Georgia O'Keeffe in Posterläden aus, während nebenan Migrantenfamilien ihre Einkäufe in mickrigen Eckläden erledigten. Ich war schon häufiger durch dieses Viertel gefahren, aber ich hatte nie angehalten.
In der E-Mail stand Folgendes: Nach Sonnenuntergang, jederzeit diese Woche.
Die kleine Uhrenanzeige in der Ecke des Computerbildschirmes zeigte 17.00 Uhr an. Nach Sonnenuntergang.
Ich musste erst in sechs Stunden zum Dienst.

Meine erste Verwandlung Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt