Part 169

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Leos Sicht

Die Worte meiner Mutter versetzen mir einen kleinen Stich ins Herz.
Wenn es möglich gewesen wäre, hätten wir uns wohl alle eine andere Vergangenheit ausgesucht.
Wenn ich mich allerdings genau umschaue und auch an unsere Freunde denke, dann muss ich feststellen, dass die wenigstens eine rosige Vergangenheit haben, aber versuchen, das Beste daraus zu machen.
Aus anderer Sicht gesehen, hätten wir wohl nie alle zusammengefunden, wenn wir wohlbehütet aufgewachsen wären und uns diese ganze Scheiße nicht wiederfahren wäre.

"Kann ich das Geschenk denn gleich öffnen, Leo?", fragt meine Mutter, da sie gemerkt hat, dass mich die Aussage irgendwie getroffen haben muss.
"Klar. Mach nur!", antworte ich nebenbei und bin mir plötzlich gar nicht mehr so sicher, ob das Geschenk eine blöde Idee war.
Vielleicht erinnert sie das viel zu sehr an die Zeit, die sie lieber gerne vergessen würde.
Mama hat die mit Geschenkpapier eingehüllte Schachtel schneller geholt, als das ich mich hätte aufs Klo verdrücken können und setzt sich wieder neben Marcel.
Meine Nervosität verschafft sich wieder die Oberhand, was auch Zoey zu bemerken scheint und deshalb so nah aufrückt, dass kein Blatt mehr zwischen uns passt.
Am liebsten würde ich sie anlächeln und ihr zu verstehen geben, dass ich froh über ihren Beistand bin, doch meine Mundwinkel würden wahrscheinlich nur eine entstellte Grimasse wiedergeben, weshalb ich es lieber gleich sein lasse.
Zoey weiß das im Normalfall auch ohne eine Bestätigung.

Tanja stellt die Schachtel auf ihren Oberschenkeln ab und öffnet langsam und vorsichtig das Papier, als wenn sie einen großen Schatz erwarten würde.
Kaum hat sie den Deckel angehoben und einen Blick auf die Dinge darin erhascht, verändert sich ihr Gesichtsausdruck.
Im ersten Moment kann ich nicht beurteilen, ob das eine negative oder positive Veränderung ist und begrüße deshalb auch eine wundervolle Übelkeit, die sich wie ein unangenehmes Völlegefühl in meinem Magen ausbreitet.
Das erste, was Mama der Packung entnimmt, ist ein Foto von uns beiden.
Auf dem Foto müsste ich ungefähr sieben Jahre alt gewesen sein und strahle mit meiner Mutter um die Wette.
In dieser Zeit, als diese Erinnerung entstand, befand sich Erik auf einer Geschäftsreise.
Das waren unsere schönsten sechs Tage, die wir vermutlich jemals zusammen hatten.

Die Frau, die mir mein Leben geschenkt hat, nimmt den Bilderrahmen in die Hand und streicht mit einem Finger über das Glas:
"Da waren wir im Freibad und haben schwimmen geübt. Anschließend wolltest du unbedingt die große Wasserrutsche rutschen und hast mich dazu überredet, das mit dir zu tun, da du das noch nicht alleine durftest. Wir sind bestimmt zwanzig mal die Treppen nach oben gelaufen, um dann mit hoher Geschwindigkeit in dem Wasserlauf wieder hinunter zu düsen. Abends warst du so kaputt, dass ich dich schlafend zum Auto tragen musste. Du hast erst wieder am nächsten Morgen deine Augen geöffnet."
Langsam aber sicher schleicht sich ein Lächeln auf ihren Mund, was mich sofort besser fühlen lässt.

Als nächstes greift sie nach der Packung Karamell Kaubonbons und fängt an zu lachen:
"Hahaha. Die haben wir immer heimlich zusammen genascht, wenn wir einen anstrengenden Tag hatten. Einmal hast du dir damit sogar einen Milchzahn gezogen und wolltest ihn mit Sekundenkleber wieder in deinen Mund kleben. Zum Glück kam ich gerade noch rechtzeitig in dein Zimmer, bevor du die Flüssigkeit der Tube in deinen Mund gedrückt hast!"
Dass sie das noch weiß und dabei kein trauriges Gesicht verzieht, bedeutet mir mehr als ich mir eigentlich eingestehen will.
"Hahaha, ja. Ich kann mich noch genau an dein Gesicht erinnern, als du realisiert hast, was ich da mache!"
Das Gefühl, von der Vergangenheit zu reden, aber nicht nur lauter schlechte Emotionen dabei hervorzurufen, ist seltsam.
Ich frage mich, ob sie während diesen schönen Erinnerungen trotzdem negative Gefühle hat, da sich kurz nach diesen wundervollen Tagen wieder etwas Schlimmes ereignet hat.
"Oh Gott, ja. Von diesem Tag an, habe ich alle Klebstifte vor dir versteckt, damit du nicht wieder auf dumme Gedanken kommst."
Als meine Mutter zu dem nächsten Gegenstand aus der Kiste greift, atmet sie schwer auf.
Von ihrer Mutter hatte sie zu meiner Geburt ein feines Silber Armkettchen bekommen, das von einem kleinen Kleeblatt- und einem Engel Anhänger verziert wurde.
Da meine Oma recht bald darauf verstarb, war das die letzte materielle Erinnerung an sie.
Erik hat ihr, während einem seiner Anfälle, diese Kette entrissen und weggeworfen.
Da ich das mitbekommen habe und wusste, wie viel ihr dieses Armkettchen bedeutet, habe ich es damals aus dem Müll gefischt und seitdem immer in meinem Geldbeutel mitgeführt, denn zurückgeben konnte ich es ihr nicht.
Erik hätte es bestimmt wieder entsorgt.
Als der Termin für unser Treffen feststand, habe ich es bei einem Schmuckhändler reparieren lassen, damit es endlich wieder zu seiner rechtmäßigen Besitzerin zurückkehren kann.

Leben verbocken; Jetzt geht es als "Mayer" weiterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt